Vernetzt Denken, besser Investieren

Vernetzt Denken, besser investieren mit Second-Level-Thinking. Dem gegenüber steht das First-Level Thinking, was man als konventionelles oder einfaches Denken beschreiben könnte.

In dieser Ausgabe geht es darum, was Second-Level Thinking ist und wie es dabei helfen kann, bessere Entscheidungen zu treffen. Ich werde mich mit der Frage beschäftigen, warum wir insbesondere bei finanziellen Fragen zu einfachem Denken neigen und was wir dagegen unternehmen können, also wie wir es schaffen, Second-Level Thinking praktisch anzuwenden.

Hier geht es zum Podcast:

Was ist Second-Level Thinking?

Der Begriff Second-Level Thinking oder Second-Order Thinking wurde von dem Investor Howard Marks geprägt.

Wie der Name nahelegt, geht es darum, auf einer „zweiten Ebene“ zu denken, also einen Schritt weiter zu gehen und die Auswirkungen einer Handlung oder eines Ereignisses zu berücksichtigen. 

Das kennt man zum Beispiel vom Schach. Ich mache nicht nur einen Spielzug, sondern ich überlege, wie mein Gegenüber auf meinen Spielzug reagieren wird und was das dann wiederum für mein Spiel bedeutet.

Und auch in anderen Lebenssituationen können wir uns die Frage nach den Konsequenzen stellen, welche Reaktionen bestimmte Handlungen oder Ereignisse hervorrufen und wie die Dinge miteinander zusammenhängen und interagieren.

Der Biologe Garrett Hardin hat aus diesen Abhängigkeiten und Zusammenhängen ein Grundprinzip der Ökologie formuliert. Nämlich: Alles ist mit allem verbunden, man kann nie nur eine Sache tun. Es gibt vielfältige, sich überschneidende Verbindungen, wie in einem Netz. Und entsprechend sollte man, wenn man etwas tut, die Auswirkungen der Auswirkungen berücksichtigen.

Das entspricht auch dem systemischen Denkansatz aus der Psychologie: Wenn in einem System, also zum Beispiel in einer Familie, in einem Team oder in einem Unternehmen, ein Bestandteil oder Faktor verändert wird, dann hat das Auswirkungen auf das ganze System, also das Gesamtgefüge.

Es geht um die Effekte auf die unmittelbaren Effekte.

In der ersten Ebene ist der Gedankengang: Wenn man A tut, dann führt das zu B. Ursache und Wirkung. Beim Second-Level Thinking heißt es ebenfalls “Wenn man A tut, dann führt das zu B”. Aber dann stellt sich die Frage, was daraus folgt. Also, wird es auch zu C, zu D oder zu E führen?

Doch wir suchen meist nach schnellen und nach einfachen Antworten. Und wir verpassen es, auf weitere Ebenen vorzudringen. Second-Level Thinking liegt uns oft fern. Und wenn man es verpasst, über die Folgen nachzudenken, dann kann das zu ungewollten Konsequenzen führen.

Der Autor Shane Parrish erzählt hierzu beispielhaft eine Anekdote über Schlangen in Indien. Während der britischen Kolonialherrschaft sorgte man sich über die hohe Zahl giftiger Kobras in der Stadt Delhi. Um die Zahl zu reduzieren, wurde eine Belohnung für jede Schlange ausgesetzt, die den Beamten gebracht wurde. Die Bürger kamen der Aufforderung nach und alsbald züchteten sie sogar Schlangen, um diese in Geld einzutauschen. Infolgedessen wurde das Schlangenproblem immer größer. Man hat es verpasst, die zweite Ebene zu bedenken. 

Ein weiteres Beispiel ist der übermäßige Einsatz von Antibiotika bei Nutztieren. Die unmittelbare Konsequenz der Verfütterung von Antibiotika ist, dass die Tiere weniger anfällig für Krankheiten sind und dass ihr Wachstum beschleunigt wird. Sie benötigen weniger Futter, um ihr Zielgewicht zu erreichen. Das bedeutet mehr Gewinn. Die ungewollten Konsequenzen eines übermäßigen Einsatzes von Antibiotika sind, dass sich a) antibiotikaresistente Bakterien bilden und b) diese Teil unserer Nahrungskette werden. Aus diesem Grund hat die EU den Einsatz von Antibiotika als Wachstumsförderer bei Nutztieren verboten.

Auch bei der Beschäftigung mit Finanzen haben wir einen Hang zum einfachen Denken. 

Ein typisches Beispiel ungewollter Konsequenzen bei Finanzen haben wir bereits in Folge 6 über Instant Gratification kennengelernt. Wenn ich jetzt konsumiere, dann habe ich unmittelbaren Genuß. Das ist der unmittelbare Effekt.

Eine weitere Konsequenz ist, dass mir weniger Geld bleibt, um zu sparen, ergo bleibt mir weniger Geld in der Zukunft. Also kurzfristiger Gewinn bedeutet langfristiger Verlust oder Verzicht.

Umgekehrt bedeutet kurzfristiger Verzicht die Möglichkeit von langfristigem Gewinn. Diese Dinge hängen unmittelbar zusammen. 

Beim Investieren möchten wir am liebsten einfach verständliche Aussagen, die einen Sachverhalt klar einordnen.

Also zum Beispiel eine Kennzahl, die uns verrät, ob eine bestimmte Aktie ein gutes Investment darstellt. Diese Erwartungshaltung nach Einfachheit wird durch steile Thesen und schlüssig klingende Geschichten mancher Influencer oder vermeintlicher Gurus noch untermauert.

Ein Beispiel könnte eine Aussage sein, wie: „Das ist ein gutes Unternehmen, diese Aktie sollte man kaufen.“ 

Auf der zweiten Ebene würde man vielleicht hinterfragen: „Ja, das ist ein gutes Unternehmen, aber jeder denkt, es sei großartig. Zudem ist die Aktie stark gehyped, wodurch der Kurs zuletzt in die Höhe geschossen ist. Die Aktie ist somit zu teuer.”

Howard Marks hat mal erzählt, wie ihm sein Sohn die Aktie von Ford empfohlen hat, mit der Begründung, dass Ford ein neues, spannendes Modell auf den Markt bringt. Woraufhin der Senior die Frage stellte: „Wie viele Leute wissen das denn nicht?“ 

In Folge 37 über das nächste große Ding sprach ich über Innovationen und wie sie Nährstoff für gute Geschichten sein können. 

Doch um den Sachverhalt richtig einzuordnen, müsste man eine Ebene tiefer graben.

Technologie X liegt im Trend, die wird von Unternehmen Y bedient, ergo wird die Aktie davon profitieren. Diese Betrachtungsweise mag schlüssig erscheinen, greift in der Realität aber oft zu kurz. 

Nicht jede Innovation setzt sich durch. Und auch wenn sich eine Innovation durchsetzt, ist noch lange nicht ausgemacht, welches Unternehmen damit erfolgreich sein wird. 

Stell Dir vor, ein Unternehmen entwickelt ein innovatives Produkt, das große Gewinne zu versprechen scheint. Dann ist zum Beispiel eine Frage, ob das Unternehmen überhaupt in der Lage ist, das Produkt erfolgreich zu vermarkten. Und was passiert, wenn ein deutlich größeres Unternehmen ein vergleichbares Produkt auf den Markt bringt?

Für Innovationen wie auch für beliebte Aktien gilt: Sie kommen oft mit schlüssigen Geschichten daher. Aber diese Geschichten verpassen es oft, die Komplexität der Realität hinreichend darzustellen und weitere Konsequenzen zu berücksichtigen. 

Und selbst wenn das alles stimmt, bleibt ein grundsätzliches Problem:

Offensichtliche Fakten oder beliebte Geschichten sind weit verbreitet. Wenn es aber offensichtlich ist und alle es wissen, dann ist die Information meist schon im Aktienkurs eingepreist. Also die Information bringt Dir keinen wirklichen Mehrwert bei Deinen Investitionsentscheidungen. 

Howard Marks ist der Meinung, dass das Denken auf der ersten Ebene sehr oberflächlich ist und dass das jeder kann. Alles, was es dafür benötigt, ist eine Meinung über die Zukunft oder ein Abschätzen der unmittelbaren Ergebnisse einer Handlung. 

Die zweite Ebene zu berücksichtigen, das wiederum ist komplex. Und die zweite Ebene ist hier auch nur stellvertretend für mögliche weitere Ebenen, auf denen ungeplante Veränderungen stattfinden.

Ein Beispiel für vernetztes Denken ist die Einführung des Biodiesels in der EU. 

Die hatte einen geringeren CO2-Ausstoß zum Ziel. Das wäre die erste Ebene. 

Daraufhin wurden zum Beispiel in Indonesien durch Brandrodungen Tropenwälder abgeholzt, um Palmöl zu produzieren. Das wäre eine zweite Ebene.

Eine dritte Ebene wäre dann, dass durch die Abholzung der Tropenwälder wieder mehr CO2 freigesetzt wird, wodurch ebenfalls eine deutliche Smogbelastung resultiert.

Und auf der vierten Ebene wäre dann eine höhere Sterblichkeit durch Smog in den Nachbarregionen der von Brandrodungen betroffenen Gebiete zu verzeichnen.

Beim Investieren ist Second-Level Thinking in der Theorie eine sinnvolle Sache.

In der Praxis ist das aber nicht immer leicht.

Es gibt Investoren, die sich bewusst entgegen der vorherrschenden, meist auf Gedanken der ersten Ebene formierten Meinung positionieren. Das Stichwort ist Contrarian-Strategie, über die ich in Folge 15 über den Herdentrieb sprach.

Der Markt neigt zu Herdenverhalten, wodurch Wertpapiere regelmäßig überteuert gehandelt werden oder unterbewertet sind. Das möchte sich der Contrarian Investor zum Vorteil machen. 

Wenn bei der Mehrheit Konsens über einen Sachverhalt herrscht. Dann kann ich zu einem anderen Schluss kommen, wenn ich einen Schritt weiter denke, also Second-Level Thinking praktiziere. Ein Beispiel: Der Markt ist der Meinung, dass ein Unternehmen Probleme hat, die Aktie wird von vielen Marktteilnehmern verkauft, der Kurs geht in die Knie. 

Ein Contrarion Investor hingegen kommt nach umfassender Analyse zu dem Schluss, dass es um das Unternehmen gar nicht so schlecht steht, wie vom Markt angenommen. Die Aktie sollte somit perspektivisch wieder steigen. Und entgegen dem Trend kauft er die Aktie. Er unterstellt, dass er weiter denkt, als dies im Markt bereits eingepreist ist. 

Das hört sich sehr smart und strategisch ausgebufft an und einige wenige Investoren sind da auch sehr gut drin. Aber das ist wirklich nicht trivial und für die meisten wohl eher nicht zur Nachahmung empfohlen.

Wie kann man Second-Level Thinking praktisch umsetzen?

Second-Level Thinking berücksichtigt Wechselwirkungen und erkennt, dass es auch Effekte und Konsequenzen geben kann, die man vielleicht gar nicht beabsichtigt. Also man kann Dinge sehen, die auf den ersten Blick eher nicht erkennbar sind. 

Second-Level Thinking ist ein bewusster und aktiver Prozess. Es geht um Neugier, etwas wirklich verstehen zu wollen. Darum, zu hinterfragen und sich nicht mit der erstbesten Antwort zufrieden zu geben.

Man kann sich bewusst Frage stellen, wie “und was passiert dann?” oder “was wäre wenn?” Und weil man die langfristige Auswirkungen verstehen möchte, kann man die Fragen ebenfalls in unterschiedlichen Zeiträumen gedanklich durchspielen. Was sind die Auswirkungen in einer Woche? In einem Monat oder in einigen Jahren?

Man kann auch andere Menschen mit einbeziehen, die die eigenen Gedanken und Ideen in Frage stellen. Und man sollte andere Möglichkeiten und Optionen nicht vorschnell ausschließen. 

Nehmen wir an, Du interessierst Dich für ein Investment in einen Nutzwald. 

Holz ist weltweit gefragt und ein ökologisch sinnvoller Baustoff, ergo könnte das ein vielversprechendes Investment darstellen. Das mag durchaus so sein, aber dann könntest bzw. solltest Du Dir auch die Frage stellen, was bei einem solchen Investment alles schiefgehen kann. 

  • Ist eine fachkundige Bewirtschaftung garantiert? 
  • Welche Folgen hat zum Beispiel der Klimawandel für diesen Wald? 
  • Welche politischen Risiken sind mit einzukalkulieren? 
  • Wie sind die Fähigkeiten des Managements?
  • Welche Entwicklung kann man überhaupt für den Holzpreis erwarten?

Traue ich mir zu all diesen Fragen überhaupt ein profundes Urteil zu?

Das schließt an einen Aspekt aus Folge 14 über die erste Regel des Investierens an:

Statt der Frage „Welches Investment wird mich reich machen?” könnte man sich auch fragen, wie man Fehler und Verluste vermeidet.

Und entsprechend kann es bei jeder noch so verlockend klingenden Anlageentscheidung hilfreich sein, dass man versucht mindestens zwei bis drei Argumente zu finden, die Gegen das Invest bzw. Dessen Erfolg sprechen. 

Das muss nicht heißen, dass man nicht letztlich doch zu einem positiven Ergebnis kommt, aber man reflektiert den Sachverhalt vielleicht stärker und läuft nicht Gefahr die offensichtliche erste Ebene überzubewerten und weitere Ebenen zu vernachlässigen

Abschließend lässt sich über vernetztes Denken sagen:

Das Denken auf der zweiten Ebene kann bei Entscheidungen, die Dein Leben betreffen, hilfreich sein. Es kann Dir dabei helfen, die Konsequenzen Deines Tuns durchzudenken. Bei Investitionsentscheidungen kann das aber sehr anspruchsvoll sein und Second-Level Thinking ist Arbeit.

Second-Level Thinking lässt uns nicht die Zukunft vorhersagen. Wir können aber mögliche oder wahrscheinliche Auswirkungen durchdenken und initiale Einschätzungen hinterfragen.

Wenn wir die zweite Ebene beherzigen, dann können wir unsere langfristigen Interessen besser wahrnehmen.

Und wenn wir uns nicht mit dem einfachen, dem oberflächlichem Denken zufriedengeben, dann hilft uns das kritische Hinterfragen dabei, unabhängig zu denken und bessere Entscheidungen zu treffen. 

PS: DasTitelbild ist in Berlin entstanden.

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