Recency Bias

Was ist Recency Bias? Wie kann sie uns als Anlegerinnen und Anleger dazu verleiten, schlechte Entscheidungen für unser Geld zu treffen? Was kannst Du gegen Recency Bias unternehmen, um keinen finanziellen Schaden zu nehmen?

Hier geht es zum Podcast:

Die Haie, das Meer und die Recency Bias

Im Jahr 1975 erschien der Film Der weiße Hai von Regisseur Steven Spielberg. Der Film war damals ein wirklicher Meilenstein. Er gewann mehrere Oscars und noch heute gilt er als ein absoluter Klassiker. Der Film war aber nicht nur ein großer Erfolg, der seinerzeit Umsatzrekorde in den Kinos einspielte. Er führte auch dazu, dass im Erscheinungsjahr aus Angst vor einem Haiangriff viel weniger Menschen im Meer schwammen, als im Jahr zuvor. 

Nun sind Haiangriffe auf den Menschen äußerst selten. Im Durchschnitt gibt es weltweit ca. 70-75 Haiangriffe im Jahr und nur die wenigsten enden tödlich. Zum Vergleich: allein in Deutschland werden jedes Jahr 110 Menschen durch einen Blitzeinschlag verletzt.

Doch wenn es einen Haiangriff gibt, dann schwimmen in der Folge viel weniger Menschen im Meer – genau wie damals, als der Film rauskam. Dieses Verhalten lässt sich vielleicht auch damit erklären, dass Haiangriffe eine Urangst in uns auslösen. Und es ist ein Beispiel für die Recency Bias, auf Deutsch Aktualitätsverzerrung.

Recency Bias beschreibt unsere Tendenz, dass wir jüngsten Ereignissen, Informationen oder Nachrichten eine übermäßig hohe Bedeutung beimessen. 

Diese frischen Informationen sind für uns sehr präsent. Sie sind leicht abrufbar. Und wir extrapolieren sie auf die Zukunft. Auch wenn die zukünftige Eintrittswahrscheinlichkeit sehr gering ist, wenn die Informationen unvollständig sind oder wenn die vorigen Ereignisse irrelevant sind. 

Das zeigt sich auch bei gänzlich zufälligen Ereignissen, wie bspw. dem Werfen einer Münze. Wenn man eine Münze wirft, dann ist das Ergebnis mit 50% Wahrscheinlichkeit Kopf und mit 50% Wahrscheinlichkeit Zahl. 

Nun kann es zum Beispiel passieren, dass mehrmals hintereinander Zahl geworfen wird. Dann könnte man annehmen, dass im nächsten Wurf mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder Zahl geworfen wird. Zahl hat einen Lauf. Und es könnte ebenso passieren, dass man die Wahrscheinlichkeit von Kopf für besonders hoch hält. Zahl fiel schon mehrfach, nun ist Kopf an der Reihe.

In beiden Fällen wird die Eintrittswahrscheinlichkeit aufgrund der vorigen Ereignisse überschätzt. Tatsächlich ist jeder Münzwurf ein unabhängiges Ereignis. Bei jedem Wurf liegt die Wahrscheinlichkeit von Kopf oder Zahl bei 50:50. 

Der Effekt von Recency Bias zeigt sich auch an den Folgen medialer Berichterstattung. 

Ob im Fernsehen, der Presse oder über die sozialen Medien: Wir bekommen jeden Tag extreme Ereignisse präsentiert, deren Bilder sich besonders stark in unseren Köpfen einbrennen. Da gilt die Aufregung des Augenblicks. Langfristige Beobachtungen und tiefergehende Analysen werden hingegen eher vernachlässigt. 

Wenn wir heute von einem Flugzeugabsturz erfahren und wir nächste Woche mit dem Flugzeug verreisen, dann ist es gut möglich, dass wir das Ereignis sehr präsent haben und wir mit einem mulmigen Gefühl ins Flugzeug steigen. 

Doch wenn man die historischen Daten betrachten würde, dann würde man sehen, dass die Wahrscheinlichkeit, mit einem Flugzeug zu verunglücken, wesentlich geringer ist, als bei einer Autofahrt. Und dass Fliegen im Laufe der Jahre immer sicherer geworden ist.

Bei Finanzen und an der Börse wirkt Recency Bias ähnlich. 

Wir verpassen es rauszuzoomen, die Geschehnisse mit etwas Abstand zu betrachten und es gelingt uns nicht gut aus historischen Ereignissen und Entwicklungen zu lernen. 

Daran schließt sich die Frage an: Wie äußert sich Recency Bias beim Investieren und welchen Einfluss nimmt sie auf unsere finanziellen Entscheidungen?

Wie bereits angesprochen verleitet uns die Recency Bias dazu, die jüngste Vergangenheit übermäßig zu betonen. Das kann dazu führen, dass wir bestimmte Marktereignisse überinterpretieren. Wir unterstellen, dass eine bestimmte Entwicklung anhält oder sich ähnliche Ereignisse wiederholen.

Ein Beispiel wäre, dass eine Aktie zuletzt stark gestiegen ist. Und wir nehmen an, dass sich dies in Zukunft so fortsetzen wird. Das schließt an einen Punkt aus Folge 48 an auch dies wird vorübergehen. Da sprach ich darüber, dass sich die Börse in Zyklen entwickelt. 

Historisch betrachtet haben sich die Aktienmärkte über einen langen Zeitraum positiv entwickelt. Aber zwischendurch gibt es immer wieder Bullenmärkte, also breite Aufwärtsbewegungen der Börse und auch Bärenmärkte, also breite Abwärtsbewegungen und sogar Crashs.

Wenn man diese zyklischen Bewegungen verinnerlicht, dann kann man eine gewisse Gelassenheit entwickeln, wenn es an den Aktienmärkten turbulent zugeht. Und umgekehrt kann man bei einer Marktrally auch vorsichtig agieren und sich nicht fälschlich für einen Superinvestor halten, wenn die Kurse in der Breite steigen und steigen.

Doch die Recency Bias kann dazu beitragen, dass wir diesen langfristigen Blick nicht einnehmen.

Wir unterstellen, dass die Entwicklung anhält.

Wenn die Kurse steigen, dann springen immer mehr Anleger auf den fahrenden Zug auf. Viele Anleger kaufen Aktien, wenn die Party zum Großteil bereits gelaufen ist. Sie kaufen zu besonders hohen Kursen und sie meinen, dass die Rallye ewig weitergehen wird. Das kann natürlich ebenso mit Verlustaversion bzw. FOMO zusammenhängen, über die ich in Folge 10 gesprochen habe.

Umgekehrt verkaufen viele Anleger in Panik, wenn es an den Märkten bergab geht. Sie nehmen einen negativen Blick ein und sie sehen nicht, dass es auch mal wieder bergauf gehen wird oder dass es sich lediglich um eine Kurskorrektur handelt. 

Insofern kann Recency Bias auch zu Übertreibungen an den Aktienmärkten beitragen: Viele Anleger verkaufen in Panik wenn es bergab geht und kaufen euphorisch, wenn die Stimmung sehr gut ist. Das führt zu extrem niedrigen Kursen im Abschwung und extrem hohen Kursen im Aufschwung.

Oft verpassen es Anleger, die im Tief verkauft haben, dann auch wieder den Einstieg zu schaffen. Sie stehen an der Seitenlinie, sind nicht investiert, die Börse erholt sich Stück für Stück. 

Irgendwann, die Kurse sind bereits geklettert, steigen die Anleger dann wieder ein. Und das Spiel wiederholt sich von vorne. Sie kaufen zu hohen Kursen. Und sie verkaufen, wenn die Kurse im Keller sind.

Recency Bias betrifft ebenfalls aktuelle Trends. 

Trends meint bspw. volkswirtschaftliche Parameter wie die Inflation oder auch Aktien aus einem bestimmten Land. Das kann ebenso eine Branche sein, die bei Anlegern beliebt ist, oder ein bestimmtes Unternehmen, das eine angesagte Technologie repräsentiert.

Ein Beispiel ist die Dotcom-Blase um das Jahr 2000. Da wurde oft wahllos in vermeintlich innovative Unternehmen investiert, bei denen die Möglichkeit von Gewinnen bzw. einem tragfähigen Geschäftsmodell teilweise auch maximal unwahrscheinlich war.

Ein aktuelles Beispiel ist Wasserstofftechnologie. Die wird in den Medien aber auch von der Politik viel diskutiert. Da könnte mancher der Versuchung erliegen an diesem Trend partizipieren zu wollen, entsprechende Aktien zu kaufen, eben weil es ein Trend ist und viel besprochen wird. Da können durchaus tolle Investitionsgelegenheiten bestehen. Aber nur weil etwas angesagt ist, handelt es sich nicht um ein gutes Investment. Darüber hatte ich bereits in Folge 37 über das nächste große Ding gesprochen.

Und bei Trends spielt oft Herdentrieb eine Rolle. Also die unbewusste oder explizite Annahme, dass wenn viele etwas tun, dann wird es schon richtig sein. Weitere Details kannst Du auch nochmal in Folge 15 über den Herdentrieb nachhören.

Doch jeder Trend geht irgendwann zu Ende und das Ende kommt oft abrupt. Manche schaffen es, einen Trend frühzeitig zu erkennen und dann auch rechtzeitig wieder auszusteigen. Vielen gelingt das nicht. Sie springen spät auf, also sie reagieren auf die jüngste positive Entwicklung oder auf das positive Narrativ des Trends. Und umgekehrt wollen sie nicht wahrhaben, wenn der Trend vorbei ist. 

Also unterm Strich ist Recency Bias eine selektive Erinnerung die sich in prozyklischem Investieren äußert. Stattdessen wäre es meist besser, sich antizyklisch zu verhalten oder auch mit einem langen Zeithorizont und einem breitgestreuten Portfolio die zwischenzeitlichen Querelen einfach auszusitzen.

Damit sind wir bei der Frage:

Was kannst Du tun, um der Recency Bias zu begegnen?

Wie so oft bei psychologischen Fallen kann es auch bei Recency Bias bereits helfen, sich ihrer überhaupt bewusst zu werden und zu verstehen, welche Auswirkungen sie haben. Wir sollten anerkennen, vielleicht auch akzeptieren, dass wir die jüngere Vergangenheit in unserem Denken tendenziell überbetonen und dass dies Emotionen wie Gier oder auch Angst beeinflussen kann. 

Es könnte auch interessant und möglicherweise auch heilsam sein, die eigenen vergangenen Anlageentscheidungen zu untersuchen, ob man selbst in der Vergangenheit mal anfällig für Recency Bias war.

Damit mein Denken und Handeln dann nicht von der Recency Bias bestimmt wird, kann es helfen, wenn ich eindeutige, realistische und vor allem langfristige Ziele definiere. Auf Basis dieser Ziele kann ich dann eine Strategie formulieren, mit der ich diese Ziele in die Tat umsetzen kann. Diese Strategie könnte ich auch aufschreiben und in Zukunft immer wieder betrachten, mir in Erinnerung rufen. Manche hängen sich sowas direkt über den Schreibtisch.

Angenommen, ich plane den langfristigen Vermögensaufbau und ich gehe dies mit regelmäßigem Sparen und Investieren sowie einem breitgestreuten Portfolio an. Dann gibt es auf einmal heftige Kursausschläge an den Börsen. Dann könnte ich mich von aufgeregten Börsenkommentaren und Social-Media-Konversationen fernhalten. Dann könnte ich versuchen, mich nicht von möglichen kurzfristigen Gewinnen oder Verlust verrückt machen zu lassen.

Und wenn mich erhitzte Debatten über einen drohenden Abschwung oder den nächsten Crash doch erreichen, dann könnte ich bewusst einen Schritt zurücktreten und mich fragen, wie die Perspektive auf die Situation aus Sicht meiner langfristigen Ziele ist, also ob das Getöse für mich überhaupt relevant ist. 

Anders ausgedrückt:

Ich sollte ein klares Ziel vor Augen haben und das mit einem systematischen Ansatz verfolgen. 

Auch wenn es zwischenzeitlich Marktschwankungen gibt und auch wenn die Euphoriker und Apologeten lauthals schreien, sollte ich mich von meinem Kurs nicht abbringen lassen. Und zur Erinnerung: Durch Recency Bias messen wir Informationen und Ereignissen, die frisch in unserem Gedächtnis sind, eine übermäßige Bedeutung zu.

Zudem jagen viele Investoren oft den neuesten Trends und heißesten Tipps hinterher, was sie nochmals besonders anfällig für einen verengten Blick macht. Das geht oft einher mit dem Versuch, den Markt zu timen. Das hatte ich in anderen Folgen des Podcasts bereits erläutert:

Beim Market Timing versuchen Anleger, die Entwicklung von Börsenkursen zu antizipieren und entsprechend zu handeln. Die Idee ist, dass man den Markt schlagen kann, wenn man nur die richtigen Ein- und Ausstiegspunkte findet. Das gelingt aber nicht auf Dauer und führt eher zu schlechten Renditen.

Demgegenüber könnte ich auch meinen Blick bewusst auf die langfristigen Daten lenken. Also statt der aktuellen Kursquerelen prüfe ich, wie die Entwicklung in den letzten 10 oder 20 Jahren war. Wie sich die Börsenzyklen in dieser Zeit entwickelt haben. Welche zugrunde liegenden Faktoren langfristig wirklich einen Unterschied gemacht haben und was das dann für mein Portfolio bedeutet – aber nicht in 2 Monaten, sondern in 20 Jahren.

PS: Das Beitragsbild ist am Niederrhein entstanden.

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