Was ist Ockhams Rasiermesser? Wie kann es uns bei schwierigen Entscheidungen zum Beispiel zur Geldanlage helfen? Und welche Limitierungen hat dieses Tool, also wo sollte es vielleicht auch etwas mit Vorsicht genossen werden?
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Ockhams Rasiermesser statt Complexity Bias
In der letzten Ausgabe habe ich über Complexity Bias gesprochen und wie diese uns bei unseren Finanzen im Weg stehen kann. Kurz zur Erinnerung: Complexity Bias, auf Deutsch Komplexitätsverzerrung, beschreibt unsere Tendenz, komplexen Konzepten übermäßig viel Bedeutung beizumessen.
Also wenn es bspw. zu einem Sachverhalt zwei miteinander konkurrierende Erklärungen gibt, dann neigen wir dazu, die komplexere zu wählen. Wir ziehen Komplexität der Einfachheit vor. Und wir unterstellen, dass etwas eher wahr oder besonders schlau ist, wenn es kompliziert daherkommt.
Viele Menschen glauben, dass erfolgreiche Investment-Strategien besonders komplex sein sollten. Dem mag die Überzeugung zugrunde liegen: Die Finanzwelt ist komplex, also brauchen wir komplexe Lösungen. Und vielleicht bist Du ja auch der Meinung, dass es eine besonders ausgefuchste Anlagestrategie braucht, um den Markt zu schlagen.
Die Wahrheit ist, dass es den meisten Investoren sowieso nicht gelingt, besser zu performen als der Markt. Vielmehr schneiden sie nach Kosten oft deutlich schlechter ab als der Marktdurchschnitt.
Eine Möglichkeit, diesem Umstand zu begegnen, wäre es, dass man gar nicht erst versucht, den Markt zu schlagen. Anders ausgedrückt: Anstatt sich die Frage zu stellen, wie man den Markt schlagen kann, könnte man sich auch die Frage stellen, mit welcher Anlagestrategie man die höchste Wahrscheinlichkeit hat, die eigenen finanziellen Ziele zu erreichen.
Und die wahrscheinlich beste Methode um der Komplexität Herr zu werden und um der Complexity Bias nicht zu verfallen, das ist Ockhams Rasiermesser.
Wer ist Ockham und was hat es mit Ockhams Rasiermesser auf sich?
William Ockham war ein englischer Theologe. Er lebte Ende des 13. Bis Mitte des 14. Jahrhunderts und er gilt als einer der bedeutendsten Philosophen des Mittelalters. Er gehörte dem Franziskanerorden an, studierte in Oxford und er war eine wichtige Figur damaliger intellektueller Diskussionen und Kontroversen. Das blieb nicht ohne Folgen. Ockham verscherzte es sich mit dem Papst, musste daraufhin nach Bayern fliehen, wo er fortan unter dem Schutz von Kaiser Ludwig IV. lebte. Und das nach ihm benannte Ockhams Rasiermesser ist ein Konzept aus der Logik und ein Prinzip zur Entscheidungsfindung.
Es gibt verschiedene Auslegungsformen zu Ockhams Rasiermesser. Vereinfacht gesagt sollte man überflüssige Erklärungen oder auch Annahmen zu einem Sachverhalt wegrasieren. Wenn man verschiedene konkurrierende Hypothesen und Erklärungen hat, die alle zum gleichen Ergebnis führen, dann sollte man die einfachste wählen. Diese ist am ehesten richtig.
Anders ausgedrückt: Gegensätzlich zur Complexity Bias, die uns dazu verleiten kann, Komplexität in der Erklärung eines Sachverhalts zu suchen, propagiert Ockhams Rasiermesser Einfachheit, die einfachste Erklärung. Auch wir sollten demnach immer mit der einfachsten Erklärung beginnen, also der Erklärung, die einen Sachverhalt wenig komplex darstellt und die auf den wenigsten Annahmen beruht.
Der Ansatz der einfachsten Erklärung war damals nicht neu. Ockham berief sich mit seinem Konzept auf die Lehren des griechischen Universalgelehrten Aristoteles. Ein ähnliches modernes Konzept ist das sogenannte KISS-Prinzip. Das steht für “Keep it simple and stupid”, also halte es einfach und beschränkt oder sinnbildlich gesprochen: idiotensicher.
Die Idee hinter Ockhams Rasiermesser ist, dass die Erhöhung von Komplexität, also bspw. das Hinzufügen von Annahmen, dass dies das Ergebnis nicht unbedingt besser macht. Vielmehr wird das Risiko von Fehlern, also von falschen Annahmen und Erklärungen erhöht, ohne dass die tatsächliche Erklärung verbessert wird.
Damit sind wir bei der Frage:
Was bedeutet Ockhams Rasiermesser nun fürs Investieren und für den richtigen Umgang mit Geld?
Wir neigen nicht nur zu komplexen Anlagestrategien. Wir neigen auch zu vermeintlich schlauen in jedem Fall komplexen Börsenstories und viele Anlegerinnen und Anleger glauben an die Kraft komplizierter Finanzprodukte, selbst wenn sie diese nicht zu 100% verstehen. Und wir schenken denjenigen Vertrauen, die uns glaubhaft machen, dass sie die Komplexität verstehen.
Auch darüber sprach ich in der letzten Folge: Die Finanzmärkte werden von manchen Protagonisten gerne sehr komplex dargestellt, zum Beispiel indem sie eine komplizierte Sprache wählen.
An dieser Stelle sind wir wieder einmal bei Warren Buffett. Im Gegensatz zu vielen lautstarken Influencern hat Buffett wirklich viel Geld an der Börse gemacht. Und im Gegensatz zu oft gehörten marktschreierischen Investment-Tipps, die nicht selten die nächste revolutionäre Entwicklung voraussagen, mit der sich unglaubliche Gelegenheiten bieten, schnell reich zu werden, im Gegensatz dazu, verfolgt Buffett einen bestechend einfachen und unaufgeregten Investmentstil.
Darüber hatte ich in Folge 11 über die wunderbare Kraft des Zinseszins gesprochen:
Der Amazon-Gründer Jeff Bezos soll Buffett einmal gefragt haben: Warren, Du bist eine der reichsten Personen auf der Welt und Dein Investment-Stil ist so simpel. Warum kopiert Dich nicht jeder? Buffett soll daraufhin einfach nur gesagt haben: weil niemand langsam reich werden will.
Warren Buffett ist nicht nur ein großartiger Investor.
Er hat in der Vergangenheit oft gesagt, dass er gerne als Lehrer in Erinnerung behalten werden möchte. Buffett hat vielen Menschen viel über die Börse beigebracht. Und seine Aussagen sind immer das Gegenteil von komplex. Sie sind sehr einfach, oft simpel und maximal einleuchtend.
Und mit seinen bestechend einfachen und logischen Aussagen, Weisheiten und Sinnbildern ist er in meinen Augen genau das: Ein exzellenter Lehrer für die Welt der Finanzen.
Dieser Fokus auf Einfachheit, auf die Vermeidung von Komplexität und vermeintlich schlauen Erklärungen, dieser Fokus zeigt sich auch in der Investmentphilosophie von Buffett und seinem verstorbenen Kompagnon Charlie Munger:
Darüber sprach ich in Folge 14 über die erste Regel des Investierens. Munger hat sinngemäß gesagt: Es ist bemerkenswert, wie viele langfristige Vorteile wir dadurch erzielt haben, dass wir konsequent darum bemüht waren, keine Dummheiten zu begehen, anstatt sehr intelligent zu sein.
Nehmen wir das Beispiel von Buffetts und Mungers Investment in Coca-Cola. Darüber sprach ich in Folge 20 über Tipps für Dividendenjäger.
1988 erwarben sie 9% an Coca-Cola für ca. 1,3 Milliarden US-Dollar. Dieser Anteil ist heute ungefähr 25 Milliarden US-Dollar wert und zusätzlich haben sie über die Jahre mehr als 10 Milliarden US-Dollar Dividenden von Coca-Cola erhalten.
Nun versetzen wir uns in die 80er Jahre zurück: Damals zeichneten sich ein paar Veränderungen in der Getränkeindustrie ab. Zum Beispiel wurden Getränke ohne Kohlensäure beliebter und es kamen auch Debatten über die gesundheitlichen Auswirkungen von zuckerhaltigen Getränken auf. Buffett aber sah enormes Potenzial in dem vergleichsweise alten Traditionsprodukt Coca-Cola. Für ihn war Coca-Cola in erster Linie eine globale ikonische Marke.
Öffentliche Debatten und neue Trends hin oder her: Coca-Cola war schon damals ein global dominierendes Produkt mit einem bestechend einfachen, aber sehr effektiven Geschäftsmodell.
Buffett sagte einmal rückblickend über seine Investition, dass er die Aktie unbedingt haben wollte, als er erfuhr, wie viele Portionen Coca-Cola jeden Tag weltweit konsumiert werden.
Viele Anleger malen ein kompliziertes Bild einer möglichen Zukunft. Sie überlegen, wie sich die Dinge entwickeln können, welche Innovation kommen könnte, wie dies die Welt verändert usw. usf.. Und ausgehend davon entwickeln sie eine komplizierte, aber in ihren Augen sehr aufregende Story, wie sich eine Aktie entwickeln könnte.
Demgegenüber ist Buffetts Investition in Coca-Cola ein Beispiel für Ockhams Rasiermesser in der Anwendung. Keine komplizierte Anlagestrategie oder Investmentthese, sondern ein ikonisches Produkt mit einer starken Marke, global distribuiert, täglich konsumiert. Ein starkes Unternehmen.
Wie kann man Ockhams Rasiermesser nun bei der Geldanlage anwenden? Wie hilft mir der Ansatz dabei, bessere Investitionen zu tätigen?
Zunächst ein wichtiger Punkt: Wir reden hier über Investitionen in Einzelaktien. Das habe ich in verschiedenen Folgen dieses Podcasts bzw. Blogs bereits angesprochen: Wenn wir in Einzelaktien investieren, dann ist das nicht nur viel Arbeit für Recherche und Analyse.
Bevor wir in eine Aktie investieren, müssen wir ebenfalls davon überzeugt sein, dass wir mit unserer Analyse richtig liegen und dass es sich tatsächlich um ein gutes Unternehmen zu einem guten Preis handelt, wir also eine gute Investition tätigen würden.
Und das ist natürlich ein Widerspruch: Die Wirklichkeit ist irre komplex und eine starke Simplifizierung steht ihrem Verständnis eher im Weg.
Wenn man sich Ockhams Rasiermesser zueigen machen möchte, um besser in Einzelaktien zu investieren, dann könnte man meiner Meinung nach folgende zwei Dinge beherzigen:
- Eine starke gleichwohl simple Investment-These.
Das heißt nicht, dass dies einfach zu bewerkstelligen oder immer möglich ist. Aber wir sollten danach streben, einfache und belastbare Erklärungen für die Qualität und das nachaltige Potenzial eines Unternehmens zu finden.
Dazu gehört auch die Frage: Was ist der Kern vom Kern, was sind die Schlüsselfaktoren, um die Leistung, die Güte eines Unternehmens gut zu bestimmen? Was sind Kernelemente, die determinieren, ob das Unternehmen nachhaltig erfolgreich sein wird?
Beispiel Amazon: Das Unternehmen ist heute wahnsinnig breit aufgestellt und in sehr unterschiedlichen Geschäftszweigen aktiv. Sein Erfolg gründet aber auf dem Online-Handel. Und der Amazon-Gründer Jeff Bezos stellte einmal fest, dass es drei Dinge sind, die Kunden immer haben wollen: Niedrige Preise, eine schnelle Lieferung und eine große Auswahl.
Bezos Logik war so einfach wie bestechend: Wenn sich diese drei zentralen Dinge nicht ändern, dann kann man als Unternehmen eine Menge Ressourcen in sie investieren, da sich das auch in 10 Jahren weiter für die Kunden auszahlen wird. Und somit kann man um diese drei Dinge eine Geschäftsstrategie aufbauen. Und das ist genau das, was Amazon getan hat.
2. Man sollte die relevanten Zahlen verstehen
Wenn man ein Unternehmen analysiert, dann kann man riesige Exceltapeten bauen, die jeden Aspekt auswerten, der das Unternehmen irgendwie betrifft.
Das ist ein Paradebeispiel für Ockhams Rasiermesser in der Anwendung: Die 100. Kennzahl liefert mir nicht unbedingt einen Erkenntnisgewinn. Und je mehr mein Datenmodell wächst, desto mehr Annahmen fließen dort rein und desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich Ungenauigkeiten oder Fehler einschleichen.
Die Frage ist also: Was sind die wirklich wichtigen Kennzahlen, um den Wert oder die Performance eines Unternehmens zu bestimmen?
Warren Buffett hat das für sich bei Coca-Cola genau beantwortet. Er stellte einmal fest, dass jeden Tag 1,8 Milliarden Einheiten Coca-Cola verkauft werden. Wenn man je Einheit nun einen Penny mehr nimmt, dann sind das Mehreinnahmen von 18 Millionen US-Dollar am Tag und ca. 6,5 Milliarden US-Dollar im Jahr.
Anders ausgedrückt: Coca-Cola macht derzeit ca. 45 Milliarden US-Dollar Umsatz im Jahr. Und wenn man davon ausgeht, dass man den Preis einer Cola um einen Penny anheben könnte, ohne die Verkäufe ins Risiko zu stellen, dann hätte man den Umsatz um über 14% erhöht.
Da zeigt sich aber eine große Hürde: Buffett ist sehr gut darin, einen komplexen Zusammenhang zu durchdringen und ihn auf wenige wichtige Faktoren herunterzubrechen. Das wird den meisten von uns wohl nicht so gut gelingen.
Also anders ausgedrückt: Die Frage nach den richtigen Kennzahlen ist komplex, was ein Widerspruch zur Komplexitätsreduktion ist.
Da stößt Ockhams Rasiermesser an seine Grenzen.
Damit sind wir beim schon öfters in diesem Podcast bzw. Blog gebrachte Hinweis, dass das Investieren in Einzelaktien viel Arbeit bedeutet, wirklich nicht leicht und letztlich auch komplizierter als bspw. Ein ETF-Sparplan ist.
Deswegen: Wenn man nach Einfachheit strebt, dann ist die Antwort für die meisten Anlegerinnen und Anleger meiner Meinung nach nicht die Komplexität des Investierens in Einzelaktien, sondern ein passiver Investmentansatz mit einem breitgestreuten Portfolio über einen langen Zeitraum.
Und das lässt sich besonders einfach bewerkstelligen, indem man das Sparen und Investieren weitestgehend automatisiert, zum Beispiel mit einem Sparplan, wobei jeden Monat ein bestimmter Betrag automatisch in ein vorab definiertes ETF-Portfolio investiert wird.
Der niederländische Informatiker Edsger Dijkstra hat sinngemäß gesagt, dass sich Komplexität besser verkauft, aber dass Einfachheit eine große Tugend ist.
Doch Vereinfachung mit Ockhams Rasiermesser ist nicht unbedingt leicht. Wenn wir in der uns umgebenden Komplexität Entscheidungen treffen wollen oder müssen, dann kann uns Ockhams Rasiermesser zwar helfen. Es ist aber trotzdem mit Vorsicht zu genießen. Die einfachste Hypothese mag die beste Option sein. Sie ist aber nicht zwangsläufig richtig.
Insofern bedeutet die Wahl der einfacheren Erklärung nicht, dass wir uns Arbeit bzw. Recherche und Analyse sparen. Sie ersetzt nicht die Notwendigkeit, dass wir einen Sachverhalt grundlegend verstehen sollten, um eine gute Entscheidung treffen zu können.
Und dann kann man ebenfalls den Schluss ziehen, dass man nur in Finanzprodukte investiert, die es einem erlauben, mit wenigen validen Informationen eine plausible Grundlage für finanzielle Entscheidungen zu erhalten.
Das kann dann in vielen Fällen für einen breit diversifizierten und kostengünstigen ETF sprechen, der bei einem genügend langen Anlagehorizont historisch betrachtet auch eine ordentliche Rendite bringt.
Das sieht übrigens auch Buffett so. Zwar ist er einer der erfolgreichsten aktiven Investoren aller Zeiten. Doch er hat testamentarisch verfügt, dass nach seinem Ableben 90% seines Vermögens passiv in einen Indexfonds investiert werden soll. Weitere Details dazu kannst Du in Folge 22 über Investieren mit ETFs nachhören.
Das Titelbild ist in Warschau entstanden.