Der Tunnelblick, oder auch: Was passiert, wenn Du tief im Tunnel bist? Was ist der Tunnelblick und wie kann er sich auf unser Denken, auf unsere Entscheidungen auswirken? Wie können wir durch den Tunnelblick finanziellen Schaden nehmen?
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Was ist der Tunnelblick?
In Folge 19 über das wichtigste Wort an der Börse habe ich über die Wichtigkeit gesprochen, dass wir uns fokussieren. Beim Investieren bieten sich schier unendlich viele Möglichkeiten und wir neigen dazu, bei jeder verlockend klingenden Möglichkeit dabei sein zu wollen.
Doch unsere Ressourcen sind limitiert – also das betrifft einerseits das Geld, das uns zum Investieren zur Verfügung steht. Aber wir können uns auch nicht mit allen Dingen beschäftigen. Wir können nicht alle Unternehmen bzw. Aktien verstehen, um wirklich beurteilen zu können, ob sie ein gutes Investment darstellen. Deswegen die Wichtigkeit von Fokus, deswegen lautet das wichtigste Wort an der Börse NEIN.
Doch wie so oft im Leben ist eine gute Verhaltensweise nur so lange gut, wie man sie mit Augenmaß verfolgt. Auf die Spitze getrieben wird Fokus nämlich zum Tunnelblick. Und das ist gar keine gute Verhaltensweise bzw. Das kann bei Geldfragen schädlich oder sogar gefährlich sein.
Die Gefahr des Tunnelblicks beschreiben die Verhaltensökonomen Sendhil Mullainathan und Eldar Shafir in ihrem Buch Scarcity, auf Deutsch Knappheit.
Feuerwehrleute und der Tunnelblick
Am 23. April 2005 starb der Feuerwehrmann Brian Hunton auf tragische Weise im Einsatz. Nun sind Feuerwehrleute im Einsatz naturgemäß Risiken ausgesetzt. Sie können sich Verbrennungen zuziehen oder eine Rauchvergiftung erleiden. Sie können ebenfalls durch einstürzende Gebäudeteile verletzt werden. Brian Hunton aber erlebte nichts davon. Er verstarb bereits auf dem Weg zum Einsatzort.
Als das Feuerwehrauto mit hoher Geschwindigkeit um eine enge Kurve fuhr, öffnete sich die linke hintere Tür. Hunton war nicht angeschnallt. Er wurde aus dem Fahrzeug herausgeschleudert und erlitt ein schweres Schädeltrauma, an dem er zwei Tage später starb.
Leider ist der Tod von Hunton kein Einzelfall. Es gibt Schätzungen, wonach Fahrzeugunfälle nach Herzinfarkten die zweithäufigste Todesursache von Feuerwehrleuten sind. Zwischen 1984 und dem Jahr 2000 geschahen ungefähr ein Viertel der Todesfälle von Feuerwehrleuten in den USA aufgrund von Verkehrsunfällen. In knapp 80% dieser Fälle waren sie nicht angeschnallt. Und es ist anzunehmen, dass ein Großteil dieser Todesfälle hätte verhindert werden können, wenn sie nur angeschnallt gewesen wären.
Feuerwehrleute kennen diese Statistiken. Sie kennen die Risiken. Sie absolvieren sogar extra entsprechende Sicherheitskurse.
Wie ist das dann möglich? Warum verlieren so viele Feuerwehrleute nicht angeschnallt bei Verkehrsunfällen ihr Leben?
Mullainathan und Shafir sehen einen wichtigen Grund dafür im Tunnelblick. Wenn Feuerwehrleute zu einem Einsatz gerufen werden, dann sind sie von einer Sekunde auf die andere einem sehr hohen Druck ausgesetzt. Gerade noch saßen sie entspannt auf der Feuerwache und im nächsten Moment müssen sie zu 100% funktionieren.
Es dauert gerade einmal 60 Sekunden, bis das Team nach Eingang eines Notrufs in kompletter Montur eingekleidet und abfahrbereit ist. Und Zeitdruck ist ein entscheidender Faktor. Sie müssen nicht nur schnell ins Fahrzeug kommen und zum Einsatzort fahren. Auf dem Weg dahin müssen sie auch noch eine Menge Vorbereitungen treffen. Sie besprechen die Vorgehensweise, analysieren den Grundriss des Gebäudes, definieren Ein- und Ausstiegspunkte, sie berechnen das benötigte Material. Und all dies geschieht innerhalb von nur wenigen Minuten auf dem Weg zum Einsatzort.
Das machen sie ganz hervorragend. Aber das verlangt auch nach einem übermäßigen Fokus. Und dieser Fokus, diese fokussierte Aufmerksamkeit auf den Einsatz, das hat seinen Preis.
Sie sind im Tunnel. Sie blenden aus, was nicht ihrem unmittelbaren Ziel dient bzw. was sie davon ablenkt. Sie vernachlässigen andere Dinge – so auch sich anzuschnallen, wider besseren Wissens.
Wir können uns gut auf bestimmte Dinge konzentrieren und unser Umfeld ausblenden.
Wenn man in ein Buch vertieft ist, dann bekommt man möglicherweise nicht mit, wie man angesprochen oder etwas gefragt wird. Diese Fokussierung ist hilfreich, um uns nicht von einer Sache ablenken zu lassen. Wir konzentrieren uns auf das, was im Moment wichtig ist.
Aber im Extrem wird sie zum Tunnelblick. Und das kann man sich wortwörtlich vorstellen. Das Sichtfeld verengt sich, alle Objekte innerhalb des Tunnels rücken in den Fokus. Aber alles außerhalb des Tunnels wird ausgeblendet. Wir verpassen es, das große Ganze zu sehen. All unsere Aufmerksamkeit gilt diesem einen Sachverhalt.
Und ein Feuerwehreinsatz ist sicherlich eine Extremsituation. Doch auch wir haben Situationen, in denen wir wie im Tunnel sind, wir einen Tunnelblick haben, in denen wir uns derart auf eine Sache konzentrieren, dass wir andere Dinge vernachlässigen.
Wenn man Stress auf der Arbeit hat, dann sieht man vielleicht nur noch die vielen vor einem liegenden Aufgaben und Themen, die es zu erledigen gibt. Denen gilt die ungeteilte Aufmerksamkeit. Dann verpassen wir es womöglich zu Mittag zu Essen. Wir vergessen es, der Oma zum Geburtstag zu gratulieren. Und wenn wir mit Freunden oder Familie abends zusammensitzen, sind wir überhaupt nicht aufnahmefähig und können dem Gespräch kaum folgen, weil unsere Gedanken fortwährend um die Arbeit kreisen.
Ein weiteres Beispiel ist Multitasking. Das machen wir vielleicht, um verschiedene Aufgaben unter einen Hut zu bringen. Und es gibt noch immer viele Menschen, die meinen, dass sie Multitasking gut beherrschen. Dabei ist in zahlreichen Studien wissenschaftlich erwiesen, dass sich unser Gehirn nur auf eine Aufgabe wirklich gut konzentrieren kann. Multitasking ist ein Mythos.
Und trotzdem checken wir Mails während einer Telefonkonferenz oder wir erledigen die eine Aufgabe noch während des Abendessens. Wir erhoffen uns Zeitersparnis, aber wir zahlen einen Preis – von der Telefonkonferenz haben wir ein paar wichtige Punkte nicht mitbekommen, die Mail ist voller Flüchtigkeitsfehler, beim Abendessen spüren unsere Mitmenschen, dass wir nicht richtig bei der Sache sind und die Aufgabe haben wir auch nur dürftig erledigt.
Dass man in einen solchen Tunnel rennt und einen Tunnelblick ausbildet, ist nach Meinung von Mullainathan und Shafir die Konsequenz einer zu großen Knappheit einer Ressource. Es gibt im Prinzip keine Ressource, die unbegrenzt zur Verfügung steht. Und wenn eine Ressource allzu knapp ist, dann müssen wir die Knappheit managen. Das kann großen Stress verursachen.
Und diese knappe Ressource kann Zeit sein, aber ebenso das liebe Geld.
Wenn man tief in einen Tunnel rennt und der Tunnelblick stark ausgeprägt ist, dann hat das negative Folgen.
Mullainathan und Shafir bezeichnen diese negativen Folgen als eine Tunnelsteuer. Damit ist gemeint, dass man bestimmte Überlegungen oder Aspekte übersieht.
Der richtige Umgang mit dem eigenen Geld folgt oft rationalen Argumenten und einem logischen Vorgehen. In Folge 36 So erhöhst du deine Sparquote habe ich darüber gesprochen, wie man seine monatliche Sparrate erhöhen und wie man effektiv auf etwas hinsparen kann.
Ganz grundsätzlich muss man, um zu sparen, seine Einnahmen erhöhen oder seine Ausgaben reduzieren.
Wenn man zum Beispiel 1.000 € für eine Anschaffung ansparen möchte, dann könnte man das mit einigermaßen selbsterklärenden Maßnahmen angehen. Wenn ich 50 € in der Woche für Restaurantbesuche ausgebe, dann könnte ich diesen Betrag halbieren. Dadurch erhalte ich Mehreinnahmen von 100 € im Monat. Nach 10 Monaten hätte ich die Kosten der geplanten Anschaffung beisammen.
Auch wenn man zu finanziell ungesundem Verhalten neigt, sind die möglichen Ratschläge einigermaßen logisch.
In Folge 6 über Instant Gratification habe ich darüber gesprochen, wie man der Neigung zu Impulskäufen entgegenwirken kann. Man kann bspw. Darauf verzichten die Zahlungsmittel beim Online-Shop des Vertrauens zu hinterlegen. Man kann den Besuch bestimmter Geschäfte meiden.
Das alles sind durchaus richtige Tipps. Das Problem ist nur: Wenn ich finanziellen Stress habe, dann werden mir diese Tipps wahrscheinlich nicht helfen. Wenn ich im Tunnel bin und einen ausgeprägten Tunnelblick habe, dann bin ich nicht unbedingt für rationale Argumente empfänglich.
Finanzielle Engpässe können zum Tunnelblick führen
Laut dem statistischen Bundesamt können ca. ⅓ der deutschen Haushalte unerwartet anfallende Ausgaben in Höhe von 1.150 € nicht mit eigenen Mitteln stemmen.
Und nun geht in einem solchen Haushalt das Auto kaputt. Die Reparatur kostet 2.000 € und man ist beruflich unbedingt auf das Auto angewiesen. Dann könnte eine durchaus rationale Empfehlung sein, dass man eine Ratenzahlung vereinbart und dass man beim eigenen Budget prüft, wo jeden Monat etwas gespart werden kann, um die Rate zu bedienen.
Wenn die finanzielle Situation aber bereits ziemlich angespannt ist, dann haben die betreffenden Personen mindestens finanziellen Stress, vielleicht sind sie auch schon tief im Tunnel. Möglicherweise steht die Angst vor Jobverlust und somit existenzielle Not im Raum. Dann läuft der vermeintlich schlaue Ratschlag zumindest im ersten Moment vermutlich ins Leere.
Ein weiteres Beispiel sind Versicherungen. Mullainathan und Shafir berichten in ihrem Buch von Studienergebnissen aus ärmeren Ländern, wonach es schwierig ist, arme Bauern dazu zu bewegen, verschiedene Versicherungen abzuschließen – also bspw. Krankenversicherungen oder Ernteversicherungen.
Mit einer Regenversicherung bspw., könnten sie sich vor den Folgen von zu wenig oder zu viel Regen absichern. Beide Szenarien hätten hohe Ernteeinbußen zur Folge, was für diese Bauern eine echte Existenzbedrohung darstellen würde. Doch selbst mit extrem hohen Subventionen lassen sich die meisten, in manchen Fällen mehr als 90% der Bauern, nicht davon überzeugen, eine Versicherung abzuschließen.
Wenn man sie fragt, warum sie nicht versichert sind, dann erklären sie oft, dass sie sich keine Versicherung leisten können. Tatsächlich könnte man aber argumentieren, dass sie es sich nicht leisten können, nicht versichert zu sein.
Das ist der Tunnelblick.
Wenn ein Bauer täglich darum kämpft, seine Familie über Wasser zu halten, dann ist die Bedrohung einer Dürre oder Krankheit in der Zukunft ziemlich abstrakt und außerhalb des Tunnels. Das ist nur allzu verständlich. Doch für diese Denkweisen und den finanziellen Tunnelblick muss man gar nicht in Entwicklungsländer und auf Menschen mit extremer Armut blicken. Das kann uns genauso passieren.
Wenn ich als Hausbesitzer in einer von Hochwasser bedrohten Region wohne, dann sollte ich eine Elementarschadenversicherung abschließen. Vielleicht ist mein Budget aber schon äußerst eng, weil ich nicht nur das Haus abbezahle, sondern im letzten Jahr auch die Heizung erneuert werden musste. Dann könnte ich mir wie auch der Bauer sagen, dass ich mir die Versicherung nicht leisten kann. Im Unglücksfall würde das bedeuten: Ich habe im Voraus Geld gespart, aber nun muss ich sehr hohe Kosten schultern, die mich möglicherweise finanziell ruinieren.
Wenn ich eine gute Entscheidung treffen möchte, dann würde ich das gegeneinander abwägen – also das Risiko eines Schadenfalls vs. die Einsparung der Versicherungsprämie. Und wenn ich bereits im finanziellen Tunnel bin und einen Tunnelblick habe, dann ist die Chance hoch, dass die Notwendigkeit jetzt Geld zu sparen, die Oberhand gewinnt, selbst wenn die Entscheidung nicht gut sein sollte. Wie auch beim Bauern ist die Möglichkeit eines zukünftigen Schadens für mich erstmal abstrakt. Die liegt außerhalb meines Tunnels und wird von mir ausgeblendet.
Der umgekehrte Fall kann übrigens auch eintreten. Wenn bspw. ein Versicherungsvertreter versucht, mir einen Vertrag für eine eigentlich unnötige Versicherung schmackhaft zu machen. Dann könnte es sein, dass er ein Schreckensszenario entwirft und mich so in dem Gespräch zu einem Tunnelblick verleitet, in dem ich nur noch die von ihm entworfene Möglichkeit fokussiere und mögliche Gegenargumente ausblende.
Der Tunnelblick beim Vermögensaufbau
Wie im Beispiel mit den Versicherungen können sich ähnliche Denkweisen oder ähnliches Verhalten auch beim Vermögensaufbau einschleichen bzw. Dessen ausbleiben. Der Vorteil des Vermögensaufbaus ist ebenfalls schwer greifbar und in der Zukunft.
Wenn wir unter Zeitdruck stehen und einen Tunnelblick haben, wenn viele Dinge auf einmal auf uns lasten und verschiedene Menschen an uns ziehen, dann kann es sein, dass wir Dinge außerhalb des Tunnels auf unbestimmte Zeit verschieben. Das gilt für regelmäßige Arztbesuche wie auch dafür, unsere Finanzen in Ordnung zu bringen oder den Vermögensaufbau endlich in Angriff zu nehmen.
Wenn wir unter Zeitdruck sind oder viel um die Ohren haben, wenn wir tief im Tunnel sind, dann ist es einfach zu sagen
“Ja meine Finanzen, die kann ich auch nächste Woche erledigen”.
Schwerer fällt die Erkenntnis:
„Ich sollte mich wirklich um meine Finanzen kümmern und ganz ehrlich – wann genau habe ich denn nun wirklich Zeit dafür?“
Meine Finanzen mögen wichtig sein. Aber die sind außerhalb meines Tunnelblicks. Und somit werden sie von mir eher unterbewertet und sie geraten leicht in Vergessenheit. Und wer weiß: Vielleicht ist es ja sogar die richtige Entscheidung, meine Finanzen nicht jetzt sondern erst in einer Woche anzugehen.
Das Problem ist, dass aus dem Verschieben nicht selten ein Unterlassen wird.
Wobei Menschen, die nicht regelmäßig sparen und investieren, häufig angeben, dass sie es sich nicht leisten können. Das mag bei manchen durchaus so sein.
Allerdings erlebe ich immer wieder, dass auch solche, die keinen großen finanziellen Stress haben, argumentieren, dass Sparen und Investieren nur etwas für Vermögende ist.
Dabei ist es eigentlich umgekehrt: Wer viel Geld hat, kann sparen und investieren. Und wer wenig Geld hat, sollte unbedingt sparen und investieren.
PS: Das Titelbild ist in Katalonien entstanden.