Der Blick von oben ist eine Übung, die unseren Blick auf Sorgen und Probleme verändern kann und die bereits von den Stoikern der Antike angewendet wurde.
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Ich habe in diesem Podcast bzw. Blog ja schon öfters über die Stoiker gesprochen. Der Stoizismus oder auch die stoische Philosophie spricht sich für eine ganzheitliche Betrachtung der Welt und aller Geschehnisse aus.
Dabei gilt es, dass das Individuum seine Rolle in diesem Gesamtgefüge kennt und versteht. Das bedeutet zum Beispiel, dass man verstehen sollte, was man unter Kontrolle hat und was auch nicht. Weil wenn man versteht, was man nicht kontrollieren kann, dann kann man mit emotionaler Gelassenheit auf die Dinge blicken. Man ändert ja sowieso nichts und dann bringt es ebenso wenig, wenn man sich über diese nicht kontrollierbaren Dinge ärgert oder übermäßig sorgt.
Es geht also um Resilienz, um Gelassenheit und um Selbstbeherrschung. Es geht darum, sein Los und die Dinge zu akzeptieren. So wie sie sind. Und das ist das Stichwort für einen der bekanntesten praktizierenden Stoiker, nämlich den römischen Kaiser Marcus Aurelius.
Der Stoiker Marcus Aurelius und der Blick von oben
Marcus Aurelius stellte fest, dass sich die Dinge unglaublich schnell entwickeln und verändern. Sie rauschen an uns vorbei und verschwinden aus unserem Blickfeld. Und er stellte fest, wie dumm es doch sei, wenn man inmitten dieser ständigen Veränderungen und der ewigen Vergänglichkeit übermäßig eitel oder stolz ist oder wenn man sich ständig sorgt oder man sich ob seines Loses quält.
Nun hatte Marcus Aurelius allen Grund sich zu sorgen und sich aufzuregen. Er sah sich und sein Volk mit verschiedenen Kriegen konfrontiert. Er musste sein Land durch eine große Pest-Epidemie führen und nebenbei hatte er mit Intrigen am eigenen Hof zu kämpfen, die in eine Rebellion mündeten. Hinzu kommt, dass es gesundheitlich nicht gut um ihn stand und militärische Führungserfahrung hatte er auch nicht.
Marcus Aurelius aber war der Überzeugung, dass wenn man die Gesamtheit betrachtet, dann erkennt man, dass man selbst nur den kleinsten Anteil an den Dingen und am eigenen Schicksal hat. Und die eigene Zeit ist in der Betrachtung der Gesamtheit ebenfalls nur ein Bruchteil.
Alles vergeht und wird nur Stoff für Erzählungen, bevor es ganz in Vergessenheit gerät. In einem Moment wird man geboren und schon im nächsten Moment ist man bereits Geschichte. Wozu also all die Aufregung? Warum sich sorgen?
Marcus Aurelius war zudem der Meinung, dass Aufregung und Sorgen gänzlich von den eigenen Einschätzungen abhängen. Das wiederum bedeutet, dass man sich ihrer entledigen kann. Wenn man das schafft, dann wird man im Großen leben. Dann nimmt man das ganze Universum in den Blick. Dann begreift man die Ewigkeit und die Schnelligkeit der Veränderung.
Und Marcus Aurelius schaffte diese Ansicht, die Betrachtung seiner Probleme und Herausforderungen in einer Gesamtperspektive, er schaffte diese Ansicht unter anderem durch die Anwendung einer klassischen stoischen Übung. Dem Blick von oben.
Wie funktioniert diese Übung, der Blick von oben?
Ich sagte eben, dass Stoiker versuchen, das Individuum im großen Ganzen zu verorten. Und bei der Übung der Blick von oben nimmt man zunächst die eigene Perspektive ein und dann zoomt man zunehmend raus, um das Gesamtbild zu verstehen. Der Blick von oben ist sehr wörtlich zu verstehen.
Stell Dir vor, wo Du Dich gerade befindest. Nun wechselt Du die Perspektive und schaust von oben herab. Wer ist die Person, die Du siehst? Was ist ihr wichtig? Welche Ängste hat sie? Was treibt sie an? Was kann sie besonders gut oder auch nicht so gut? Wodurch ist sie in ihrem Leben, in ihrem Denken und ihrem Verhalten geprägt?
Und dann kannst Du Deinen Blick weiten, die Umgebung in den Blick nehmen und weitere Fragen stellen. Du siehst den Raum, in dem Du Dich befindest. Was ist das für ein Raum? Welche Objekte befinden sich in ihm? Wie interagieren Menschen in diesem Raum? Sind sie aufgeschlossen, handeln sie dynamisch? Sind sie offen für neue Entwicklungen?
Du zoomst etwas raus und siehst nun nicht mehr Dich und den Raum, sondern das Gebäude, in dem Du Dich befindest. Welche Materialien kannst Du erkennen? Welche Funktion haben die verschiedenen Bauelemente? In welcher Beziehung steht das Gebäude zur Nachbarschaft?
Du zoomst weiter raus. Du siehst die Straße, Dein Viertel. Ist dort viel Verkehr? Begegnet man sich? Du siehst die ganze Stadt. Welche Themen umtreiben die Bürgerinnen und Bürger? Du siehst das Umland. Menschen und Autos bewegen sich. Ihre Umgebung aber bewegt sich nicht. Menschen und Autos werden kleiner. Irgendwann sind sie gar nicht mehr zu erkennen.
Du durchstößt die Wolkendecke. Die Bewegungen auf der Erde kannst Du nun gar nicht mehr sehen. Von hier erscheint alles ruhig. Du kannst die Erdkrümmung erkennen, ganze Kontinente, die gesamte Erde. Die Erde wird immer kleiner, bis auch sie irgendwann nicht mehr zu erkennen ist.
Und während Du herabschaust stellst Du fest, dass alles was Dich beschäftigt, jeder Mensch, den Du kennst, alle historischen Entwicklungen und Verwerfungen aus dieser Perspektive nur kurze Momente sind. Der endlose Raum und die Zeit waren schon lange vorher da und sie werden auch noch lange nach uns da sein.
Im Prinzip ist der Blick von oben eine einfache Visualisierungstechnik
Man verlässt die Ich-Perspektive und man nimmt die Perspektive oder auch Position eines Beobachters ein, der sich erhebt und die Dinge in den verschiedensten Maßstäben betrachtet.
Der Blick von oben ist kein Fatalismus. Es geht nicht darum, dass man sowieso nicht handlungsfähig ist und nichts ändern kann. Aber ich erkenne an, dass ich eben nicht nur ein Individuum sondern ein Teil des Ganzen ist. Ich bin ein Bestandteil meiner Umgebung. Entsprechend interagiere ich mit meiner Umgebung und entsprechend bin ich oder mein Leben beeinflusst, durch Dinge, die in meiner Umgebung geschehen.
Ziel der Übung ist es, dass man Sorgen ausräumt, dass man eine Situation beruhigt, dass man verinnerlicht, wie klein die eigene Rolle ist, die man in der Gesamtheit einnimmt und dass man die Realität aus einer objektiveren Perspektive betrachtet. Unsere Bedenken und Sorgen, Ängste, Wünsche und Erwartungen erscheinen plötzlich, in diesem großen Zusammenhang, in einem anderen Licht.
Der Blick von oben, so die Überzeugung der Stoiker, rückt viele Dinge in die richtige Perspektive. Man erkennt, wie nichtig viele Dinge bei genauerer Betrachtung sind. Und vielleicht erkennt man auch, wie unbedeutend die eigene Perspektive ist, die zuvor noch zentraler Dreh- und Angelpunkt des eigenen Empfindens war.
Natürlich löst diese Übung erstmal kein Problem. Marcus Aurelius musste sich immer noch mit Kriegsgegnern, der Pest und einer Intrige herumschlagen. Aber der Blick von oben ließ ihn anders über die Dinge denken. Er half ihm nachzudenken und er ließ ihn konstruktiver als auch mit emotionalem Abstand auf seine Herausforderungen und Probleme schauen.
Und was für Marcus Aurelius gut funktioniert hat, das ist in der heutigen hektischen und schnelllebigen Zeit meiner Meinung nach geradezu prädestiniert, um die Dinge mit ein wenig Abstand zu betrachten.
Der Blick von oben in der Anwendung
Der Blick von oben kann in den verschiedensten Situationen eingesetzt werden – sei es bei zwischenmenschlichen Problemen oder persönlicher Not, wenn es technologische oder soziale Veränderungen gibt und eben auch bei Themen, die das liebe Geld betreffen.
Vielleicht frustriert mich, dass ich eine bestimmte Aktie nicht gekauft habe, die anschließend durch die Decke gegangen ist. Vielleicht ärgere ich mich darüber, dass ich einen richtigen Fehlkauf getätigt und somit einen größeren Geldbetrag in den Sand gesetzt habe.Vielleicht sorge ich mich, ob ich die Gehaltserhöhung bekomme.
Oder vielleicht ist das Thema Geld an sich für mich emotional aufgeladen. Es belastet mich und ich versuche es zu vermeiden, Stichwort Money Avoidance aus Folge 67.
Bei all diesen Themen ist es verständlich, dass sie mich beschäftigen. Marcus Aurelius würde aber einwenden, dass diese Probleme mit Blick auf Raum und Zeit absolut unwesentlich sind.
Das, was Dir heute sehr wichtig erscheint, ist morgen schon vergessen und mit Blick aufs große Ganze total unwichtig. Und dabei geht es nicht darum, dass man gleichgültig wird oder resigniert abwinkt, dass sowieso alles egal ist.
Der Blick von oben für Gelassenheit.
Wenn wir gelassen und nicht emotional aufgeladen die Dinge angehen, dann werden wir sie besser bewältigen. Wenn wir uns in einer Marktphase befinden, in der die Aktienkurse verrückt spielen. Dann kann man sich davon leicht total irre machen lassen. Man konsumiert jeden Tag aufgeregte Börsennachrichten und man schaut jeden Tag ins eigene Portfolio. Man sieht, wie es an den Börsen rauf oder runter geht, welche Chancen man verpasst hat oder welchen Dämpfer der Wert des eigenen Depots erfahren hat.
Die andere Möglichkeit wäre, dass man nicht in diesen Tunnel rennt. Stattdessen nimmt man den Blick von oben ein. Man schaut auf die eigenen finanziellen Ziele, den für den Vermögensaufbau angedachten Zeitraum.
Ein Stoiker würde feststellen, dass man am Auf und Ab der Börse nichts ändern kann. Wenn die Börse sich in einer Abwärtsbewegung befindet, dann ist das so. Ich kann aber dafür sorgen, dass mich eine solche Abwärtsbewegung nicht böse erwischt, dass ich darauf vorbereitet bin und zum Beispiel nicht kurzfristig an mein Geld ran muss. Und natürlich kann ich trotz guter Planung auch immer eine Aktie erwischen, die sich wesentlich schlechter entwickelt, als von mir erwartet. Daran kann ich nichts ändern.
Ich kann aber vorbeugen und bspw. Diversifizieren, nicht alles auf eine Aktie setze. Es geht darum zu unterscheiden: Gelassen bleiben, wenn ich nichts ändern kann und handlungsfähig sein, wenn ich die Dinge durchaus beeinflussen kann.
Wenn man in Einzelaktien investiert, dann könnte man prüfen, wie es denn tatsächlich um die Unternehmen steht. Dann stellt man vielleicht fest, dass eine kurzfristige Kursbewegung eher aufgrund der allgemeinen Stimmung am Markt geschieht oder dass Hype bzw. Panik mit Blick auf die wirkliche Performance des Unternehmens nicht angebracht ist.
Wenn man breitgestreut investiert, zum Beispiel in ETFs, dann kann man auch zeitlich rauszoomen und eine längere Periode beobachten. Und dann sieht man, dass es an den Börsen regelmäßig zur Sache gehen kann, aber dass sich die Märkte historisch betrachtet über einen langen Zeitraum ziemlich gut entwickelt haben.
Marcus Aurelius würde darauf hinweisen, dass schwankende Aktienkurse zum Geschehen an den Märkten dazugehören. Wir müssten Kursbewegungen akzeptieren, weil kontrollieren können wir sie sowieso nicht. Die einzig relevante Frage für uns Anlegerinnen und Anleger ist, wie wir auf diese Bewegungen reagieren.
Und wenn heute ein Thema die Nation oder die Märkte aufregt, dann kann es durchaus sein, dass schon nächste Woche eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird und das Thema von heute niemanden mehr interessiert. Stichwort Folge 48, auch dies wird vorübergehen.
Der Blick von oben wird öfters mit dem sogenannten Overview-Effekt verglichen.
Der Overview-Effekt beschreibt ein emotionales Erlebnis, das Astronauten beim Blick auf die Erde haben. Demnach führt der Blick auf die Erde aus dem Weltall zu einer grundlegenden Verändewrung der Perspektive auf die Menschheit und das Leben auf der Erde.
Astronauten haben beschrieben, dass sie auf einmal die Endlichkeit und auch Zerbrechlichkeit aller Existenz verspüren, dass vieles auf der Erde plötzlich als unbedeutend erscheint und dass sie sich mit dem Leben auf der Erde sehr verbunden fühlen.
Und auch wenn es den meisten von uns nicht vergönnt ist, die Erde tatsächlich aus dem Weltall zu betrachten, so kann die stoische Übung der Blick von oben auch unseren Blickwinkel verändern.
Und vielleicht führt der Blick von oben auch zu der Erkenntnis, dass manche unserer Probleme und Sorgen nicht die Bedeutung haben, die wir ihnen im Moment beimessen.
PS: Das Beitragsbild ist in Brandenburg entstanden.