Der Ankereffekt

Was ist der Ankereffekt? Wie können wir zum Beispiel in Verhandlungen bewusst Anker setzen und wie lassen wir uns vom Ankereffekt bei unseren Kauf- oder Investitionsentscheidungen beeinflussen?

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Der Ankereffekt ist eine kognitive Verzerrung, ein psychologisches Phänomen, wonach wir uns stark von der ersten Information, die wir erhalten, dem Anker, beeinflussen lassen. 

Dabei ist es unerheblich, ob diese Information für den zugrundeliegenden Sachverhalt relevant ist. Einmal ausgesprochen ist der Anker gesetzt und er beeinflusst beim Einschätzen einer Situation und auch in unserer Entscheidungsfindung.

Der Begriff Ankereffekt wurde von den verstorbenen Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky 1974 geprägt. Kahneman und Twersky führten bspw. ein Experiment durch, bei dem sie ein Roulette-Rad mit den Zahlen 0 bis 100 drehten. Das Rad war allerdings so manipuliert, dass immer die Zahl 10 oder die Zahl 65 kam. Nachdem das Roulette-Rad gedreht wurde und bei 10 oder 65 stehen blieb, fragten sie die Probanden, wie viel Prozent der afrikanischen Länder Mitglieder der Vereinten Nationen sind. 

Wenn das Roulette zuvor die Nummer 10 angezeigt hat, dann antworteten die Teilnehmer im Schnitt mit 25%. Wenn das Roulette allerdings auf der 65 landete, dann lag die Schätzung bei 45%. Die höhere Roulette-Punktezahl, führte also zu einer höheren Schätzung. Obwohl die Teilnehmer glaubten, dass das Roulette zufällig auf einer Zahl landete und obwohl diese Zahl ja sowieso vollkommen irrelevant für die Antwort war, hatte die Zahl einen Einfluss auf die Schätzungen der Probanden. Obwohl vollkommen irrelevant für die Frage, lieferte das Roulette einen Anker für die Antwort.

Und das lässt sich in vielen Situationen beobachten, insbesondere wenn wir einer Ungewissheit ausgesetzt sind und ein Urteil fällen sollen. Dann lassen wir uns leicht von der ersten Zahl bzw. der ersten Information beeinflussen. 

Es ist ganz so, als ob sich der Anker bei uns im Kopf einnistet. Der Ankereffekt wirkt.

Und entsprechend findet der Ankereffekt in vielen Lebensbereichen Anwendung, zum Beispiel bei Verhandlungen. Er wird ebenfalls im Marketing eingesetzt, um uns als Verbraucher zu beeinflussen und er begegnet uns auch bei der Geldanlage.

Starten wir mit dem Ankereffekt bei Verhandlungen. 

In Folge 89 über das Feilschen und Verhandeln habe ich den Ankereffekt bereits kurz vorgestellt. 

Im Kontext von Verhandlungen ist der Anker der erste Wert, der von einem der Verhandlungspartner genannt wird. Dieser Wert setzt die Basis, den Anker und somit hat er auch einen Einfluss auf den weiteren Verlauf der Verhandlung. Entsprechend werden Anker oft bewusst zu Beginn einer Verhandlung gesetzt, um den Rahmen zu definieren. 

Angenommen, Du möchtest Dein Auto verkaufen. Du hast Dich vorbereitet, Preise vergleichbarer Fahrzeuge im Internet recherchiert, die liegen meist zwischen 8.000-10.000 Euro. Dann wäre eine Überlegung, dass Du einen durchaus ambitionierten Preisanker setzen möchtest, der den potenziellen Käufer aber nicht verschreckt. 

Nun wäre eine Möglichkeit, dass Du die Verhandlung mit 11.000 Euro eröffnest, in dem Kalkül, dass Ihr Euch im Laufe der Verhandlung innerhalb der Spanne von 8.000-10.000 Euro treffen werdet.

Es gibt auch Studien, wonach es in Verhandlungen sinnvoll sein kann, eine Bandbreite zu nennen, zum Beispiel 10.500 bis 11.500 Euro. Die Idee dabei ist, dass man einerseits einen Preisanker setzt, man aber gleichzeitig ein gewisses Entgegenkommen und Flexibilität suggeriert. 

Es gibt ebenfalls Studien, wonach ein exakter Preisanker in einem besseren Verhandlungsergebnis resultieren kann. Demnach könnte es sinnvoller sein, eine Immobilie zu einem Preis von 255.500 Euro zu inserieren, als für 256.000 Euro oder 255.000 Euro. 

Laut dem Wirtschafts- und Sozialpsychologe David Loschelder von der Leuphana Universität Lüneburg folgt auf ein präzises Angebot ein mitunter weniger ambitioniertes Gegenangebot. Das kann bspw. Damit zusammenhängen, dass bei einem präzisen Preis eine gute Marktkenntnis unterstellt wird. 

Gleichzeitig gibt es Forscher, die meinen, dass ein präziser Preis auch abschreckend wirken kann, da er eine mangelnde Verhandlungsbereitschaft erkennen lassen könnte. 

Eine weitere Variante beim Ankereffekt ist der sogenannte Phantom-Anker. 

„Ich wollte das Auto eigentlich für 15.000 Euro verkaufen, aber Du kannst es für 12.000 Euro haben.“

Also ich offeriere das Fahrzeug gar nicht für 15.000 Euro und trotzdem setze ich diese Zahl als Anker. Und tatsächlich haben Nazli Bhatia von der University of Pennsylvania und Brian Gunia von der Johns Hopkins University herausgefunden, dass das Framing mit einem Phantom-Anker zu besseren Verhandlungsergebnissen führen kann. Gegenläufig kann der Einsatz eines Phantom-Ankers dazu führen, dass mich mein Gegenüber als manipulativ wahrnimmt, was dem Vertrauen schaden kann.

Welchen Weg man auch wählt: In allen diesen Varianten kommt der Ankereffekt zur Anwendung. Einmal gesetzt, definiert der Preisanker das Spielfeld und setzt sich im Kopf des Gegenüber fest. 

Um im Beispiel des Autoverkaufs zu bleiben: Alle Preise, die unter meinem Initialangebot, meinem Preisanker liegen, wirken auf den Käufer vernünftiger und wie ein Zugeständnis. Auch wenn sie immer noch höher sein sollten als der tatsächliche Wert des Fahrzeugs.

Ob es sinnvoll ist, einen Anker zu setzen oder nicht, hängt stark davon ab, ob man gut informiert ist. Wenn ich der Meinung bin, dass ich mich mit dem Verhandlungsgegenstand, also zum Beispiel Produkt und Preis, gut auskenne, vielleicht sogar besser als mein Verhandlungspartner, dann kann ich durch das Setzen eines Ankers das Steuer übernehmen. 

Falls dem nicht so ist, sollte ich hingegen vorsichtig sein, da mein Anker zu hoch oder auch zu niedrig sein könnte. 

Der Ankereffekt im Kontext von Marketingbotschaften. 

Wie eingangs erwähnt, bewirkt der Ankereffekt, dass sich die erste Information bei uns im Kopf festsetzt, ganz egal, ob sie relevant oder auch richtig ist oder eben nicht.

Ein Beispiel für einen Anker im Marketing ist die unverbindliche Preisempfehlung des Herstellers, kurz UVP. Diese wird vom Handel gerne plakativ dargestellt, um diesen Preis bei den Kunden zu verankern und um zu suggerieren, dass dies der eigentliche Wert des jeweiligen Produktes ist. Wenn der Verkäufer dann einen Rabatt anbietet, so die Idee, referenzieren wir zur ursprünglich kommunizierten UVP und wähnen ein gutes Geschäft.

Tatsächlich erleben wir tagtäglich Anker. 

Stichwort Rabatte: Während der Rabatt-Saison wird oft mit Sätzen wie “bis zu 50% reduziert” geworben. Das soll uns einerseits in ein Geschäft locken. Aber selbst wenn viele Artikel dann weniger als 50% reduziert sind, ist der “Rabattanker” bei uns gesetzt, wir haben abgespeichert, dass wir hier in diesem Laden ein gutes Geschäft machen können. 

Fast jeder Autofahrer hat einen in seinen Augen guten Benzinpreis als Anker abgespeichert, zu dem er oder sie den jeweils aktuellen Preis vergleicht. 

Der Einzelhandel arbeitet mit sogenannten Ankerprodukten. Das sind insbesondere Produkte des täglichen Bedarfs, wie Butter, Eier oder Mehl, bei denen wir einen klaren Preisanker vor Augen haben und an denen wir als Verbraucher festmachen, ob ein Supermarkt eher günstig oder teuer ist.  Deutschland hat hier eine Besonderheit. Bei uns sind Bananen mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Konsum von ca. 11 kg im Jahr das zweitbeliebteste Obst. Wir essen lediglich mehr Äpfel, ca. 26 kg. Und interessanterweise zählen Bananen gerade in Deutschland auch als Ankerprodukt, weswegen viele Lebensmittelhändler hierzulande mit besonders günstigen Bananenpreisen werben.

Auch Organisationen, die Spenden einsammeln, machen sich den Ankereffekt gerne zunutze. Eine Botschaft wie “Schon 1 Euro am Tag hilft”, framed uns auf ein Spendenvolumen von mindestens 30 Euro im Monat. 

Und unabhängig davon, was man letztlich zu spenden bereit oder auch fähig ist, erfahrungsgemäß resultiert ein solch höherer Anker in höheren Spendenaufkommen, als ein Anker von bspw. 20 Euro im Monat. Um möglichst viele Spenden einzusammeln, gilt es also, einen möglichst hohen, aber immer noch akzeptierten Anker zu setzen.

Der Ankereffekt im Kontext der Geldanlage.

Beim Investieren ist der Ankereffekt oft besonders stark ausgeprägt. Ein Beispiel sind Investitionen in Einzelaktien. Da ist der aktuelle Aktienkurs ein Anker, der sich auf unser späteres Investitionsverhalten stark auswirken kann.

Angenommen, wir interessieren uns für eine Aktie, die zum aktuellen Zeitpunkt zu 100 Euro gehandelt wird. Dann speichern wir diesen Kurs ab. Fällt der Kurs um 10% auf 90 Euro, wähnen wir ein Schnäppchen. Steigt er um 10% auf 110 Euro, erscheint dieser Kurs teuer.  Ausschlaggebend für diese Einschätzung ist der Anker von 100 Euro, aber keine der drei Zahlen sagt irgendetwas über den tatsächlichen Wert der Aktie aus. 

Vielleicht ist die Aktie auch mit 110 Euro noch günstig. Vielleicht war sie schon bei 100 Euro deutlich überbewertet und ist es bei 90 Euro immer noch. Es kann ebenfalls sein, dass hier Recency Bias eine Rolle spielt, über die ich in Folge 60 gesprochen habe. 

Kurz zur Erinnerung: Recency Bias beschreibt unsere Tendenz, dass wir jüngsten Ereignissen, Informationen oder Nachrichten eine übermäßig hohe Bedeutung beimessen.

Ein Beispiel: Vielleicht haben wir jüngst positive Meldungen über die Entwicklung der Wirtschaft oder einer bestimmten Branche vernommen. Dann kann es sein, dass wir höhere Aktienkurse als gerechtfertigt ansehen.

Der Ankereffekt wirkt aber nicht nur beim Erwerb einer Aktie.

Er lässt sich insbesondere dann beobachten, wenn wir ein Wertpapier bereits halten, wobei der Einstiegskurs als starker Anker wirkt, an dem wir uns orientieren. 

Stichwort Folge 10 über Verlustaversion: Wir neigen dazu, Gewinneraktien zu früh zu verkaufen und Verlustbringer zu lange zu halten. Tatsächlich wäre es gerade andersrum richtig. Für dieses Verhalten gibt es verschiedene Gründe. Aber ein Faktor kann auch der Ankereffekt sein.

Wenn bspw. eines unserer Wertpapiere ins Minus rutscht, dann vergleichen wir den aktuellen Kurs zum Einstiegskurs, das ist unser Anker. Wir hoffen, dass der Einstiegskurs wieder erreicht wird und wir weigern uns, das Wertpapier mit Verlust zu verkaufen und somit den Verlust zu realisieren. 

Vielleicht unterstellen wir auch, dass der Anker ein realistischer Kurs ist – dieser wurde ja bereits in der Vergangenheit erreicht, also muss die Aktie in Zukunft dort wieder landen. Dem ist aber nicht so. Die Kurse können noch weiter absacken, der Verlust wird somit größer. Vielleicht erholt sich die Aktie niemals von diesem Kursdämpfer. Und vielleicht dauert es ewig, bis der Ankerkurs wieder erreicht wird, wodurch wir es verpassen, unser Geld anderweitig anzulegen. 

Es kann ebenfalls passieren, dass wir einen Ankerkurs bei einer Gewinneraktie setzen. Also angenommen wir kaufen eine kleine Position einer Aktie, die sich in der Folge gut entwickelt, der Kurs steigt. Dann könnte eine legitime Überlegung sein, dass wir unseren Bestand der Aktie weiter aufstocken, die Position also ausbauen. 

Dann wäre eine Möglichkeit, dass wir unseren ursprünglichen Kaufkurs als Anker gesetzt haben und es vermeiden, zu dem nun etwas höheren Kurs nachzukaufen. Auch wenn dies mit Blick auf unsere Strategie und das weitere Kurspotenzial der Aktie die richtige Entscheidung wäre.

Eine weitere Möglichkeit ist, dass wir historische Daten als Anker setzen, zum Beispiel ein Allzeithoch oder ein KGV aus der Vergangenheit. Auch hier ist nicht gesetzt, dass dies in Zukunft wieder eintritt. Das KGV steht für Kurs-Gewinn-Verhältnis und ist eine Kennzahl zur Bewertung von Unternehmen. Weitere Details dazu kannst Du auch nochmal in Folge 31 nachhören.

Und sowohl bei den genannten Marketingbotschaften, als auch im Kontext der Geldanlage, gibt es qualitative Anker. Im Konsumbereich wären das Produktbeschreibungen wie “reich an Vitaminen”, “mit natürlichen Zutaten” oder “umweltverträglich”. Übertragen auf das Investieren wären das Aussagen wie “solides Investment” oder auch “nachhaltige Geldanlage”. Also im Zweifelsfall schwammige Begriffe, die aber Assoziationen bei uns hervorrufen.

Was kann man tun, um dem Ankereffekt zu begegnen?

Zunächst ist ein Anker und der Ankereffekt nicht per se schlecht. Eine Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen von 130 km/h ist auch ein Anker. Man darf schneller fahren, aber viele orientieren sich bewusst oder unbewusst an diesem Anker. Beim Verhandeln kann der Anker Fluch oder Segen sein – je nachdem, in welcher Position ich mich befinde, wie gut mein Wissen über den Sachverhalt ist und wie geschickt ich verhandle. 

Ein Bewusstsein über die mögliche Präsenz des Ankereffekts, kann schonmal hilfreich sein. Dann kann man aktiv darauf hinwirken, Vermutungen oder emotionale Faktoren mit Fakten zu hinterfragen. Als Konsument kann ich bspw. Hinterfragen, welche Preismechanismen tatsächlich hinter einer vollmundig kommunizierten Rabattaktion stecken. 

Wenn mir ein Angebot gemacht wird oder ich mit einer Zahl konfrontiert werde, dann kann ich bewusst gedanklich einen Schritt zurückgehen und mich fragen, was ich ohne den gesetzten Anker erwartet hätte. Das ist in der Praxis nicht immer leicht umzusetzen, kann aber schon helfen. 

Anders ausgedrückt: Anstatt auf Intuition zu setzen, sollte ich mich in Reflexion üben.

Beim Investieren in Einzelaktien bedeutet das bspw., dass ich meine Entscheidungen nicht auf Basis von Kursbewegungen treffe. Vielmehr geht es um den tatsächlichen Wert einer Aktie und wie sich dieser entwickelt. Weitere Details dazu kannst Du in der angesprochenen Folge 31 über das KGV als auch in Folge 50 über die Kunst der Unternehmensbewertung nachhören. 

Die Entscheidung für den Kauf oder Verkauf einer Aktie sollte durch das Unternehmen an sich getrieben sein, wie es heute und in Zukunft dasteht. Kurzfristige Kursschwankungen oder ein Kursanker aus der Vergangenheit sind da einigermaßen irrelevant. 

Warren Buffett hat sinngemäß gesagt, dass Aktienkurse die Menschen dazu veranlassen, Dinge zu tun, die sie sonst nicht tun würden. Und sich auf Kursbewegungen zu fokussieren, das sei eine fürchterliche Art, in Unternehmen zu investieren.

Und wie so oft beim Investieren kann es helfen, dass wir emotionalen Fallstricken mit einem systematischen Investmentansatz und mit einem festen Regelwerk begegnen. Das meint bspw., dass wir beim Investieren in Einzelaktien eine Checkliste haben, die klar definiert, was bei einer Aktie gegeben sein muss, damit wir sie kaufen oder auch verkaufen. 

Damit vermeiden wir es, aus dem Affekt heraus zu handeln und sicherzustellen, dass wir unsere Hausaufgaben machen und dass wir bewusst und aus Überzeugung agieren. 

Das Titelbild ist in Kolumbien entstanden.

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