Der Beipackzettel des Investierens:
- Mit welchen Nebenwirkungen sollten wir uns beim Investieren auseinandersetzen?
- Was ist der Unterschied zwischen Risiko und Unsicherheit beim Investieren?
Hier geht es zum Podcast:
Der Beipackzettel und mögliche Nebenwirkungen
Bei Medikamenten kennen wir den Beipackzettel als einen Verbraucherhinweis, in dem uns die Anwendung der Medikamente beschrieben wird und welche Art von Nebenwirkungen auftreten können.
Auch in anderen Lebensbereichen können wir uns – im übertragenen Sinne – einen Beipackzettel vorstellen. Dieser Beipackzettel drückt ebenfalls mögliche Nebenwirkungen aus. Man könnte auch sagen: Der Beipackzettel führt uns vor Augen, dass ein Sachverhalt zwar einigermaßen klar vorliegen mag, dass eine Entscheidung im Grundsatz eindeutig oder dass eine bestimmte Handlung empfehlenswert sein kann.
Es gibt allerdings oft einen Unsicherheitsfaktor zu einem Sachverhalt. Eine Entscheidung kann möglicherweise Nebenwirkungen haben, man könnte auch sagen, unerwünschte Konsequenzen. Unsere Handlung mag richtig sein, wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass sie mögliche Folgeeffekte nach sich ziehen kann. Nur die wenigsten Dinge sind eindeutig und glasklar. Die Realität ist nur selten schwarz weiß. Vielmehr erleben wir Unsicherheit. Wir erleben mehrdeutige oder zumindest nicht eindeutige Sachverhalte.
Und das ist für uns problematisch.
Wir wollen Klarheit und einfache Antworten. Ist mein Gegenüber Freund oder Feind. Sollte ich X oder Y tun, ist eine Angelegenheit gut oder schlecht, eine Entscheidung richtig oder falsch. Wir haben eine geringe Ambiguitätstoleranz. Damit beschreiben Psychologen unsere Fähigkeit, mit der Unbestimmtheit, mit den Graubereichen des Lebens umzugehen.
Ambiguität wird oft im Zusammenhang mit Risiko genannt. Sie ist aber nicht dasselbe.
Risiko ist per Definition der mögliche negative Ausgang bei einer Unternehmung, die Möglichkeit von Misserfolg. Oder wie in Folge 7 über Risiko an der Börse beschrieben: Risiko ist die Möglichkeit von Verlust oder von Schaden.
Die Psychologin Oriel FeldmanHall von der Brown University grenzt Risiko zur Ambiguität dahingehend ab, dass wir beim Risiko die Wahrscheinlichkeit kennen, mit der ein Ereignis eintreten wird. Bei Ambiguität hingegen haben wir kein Wissen über die Wahrscheinlichkeit. Es ist die Mehrdeutigkeit, die Unsicherheit, die wir bei einem Sachverhalt erleben.
Und FeldmanHall stellte fest, dass risikobereite Menschen nicht unbedingt auch mit Ambiguität, mit Unsicherheit umgehen können. Umgekehrt gilt ebenso, dass Menschen mit einer hohen Ambiguitätstoleranz nicht automatisch auch gern Risiken eingehen.
Kommen wir zum Beipackzettel des Investierens.
Wenn wir uns mit der Geldanlage beschäftigen, dann kommen wir vermutlich zu dem Schluss, dass es für den langfristigen Vermögensaufbau sinnvoll ist, Geld an der Börse zu investieren. Tatsächlich sind Aktien und ETFs eine sehr gute Sache. Historisch betrachtet und über einen langen Zeitraum haben sie eine sehr ordentliche Rendite erwirtschaftet, von der man bei vielen anderen Anlageformen nur träumen kann. Also grundsätzlich ist es für die meisten Menschen eine sehr gute Idee, sein Geld an der Börse zu investieren, zumindest wenn wir die Kosten niedrig halten, wenn wir breitgestreut investieren und wenn wir einen langen Investitionszeitraum verfolgen.
Doch auch beim Investieren an der Börse gibt es einen Beipackzettel, dessen wir uns bewusst sein müssen. Und dieser Beipackzettel ist die Ambiguität der Börse. Es ist die Unsicherheit, wie sich die Börsenkurse kurzfristig entwickeln. Es ist die Irrationalität der Märkte, wie in Folge 107 beschrieben.
Der amerikanische Börsenindex S&P 500 bspw. ist von März 2009 bis März 2025, dem Zeitpunkt der Aufnahme dieser Folge, um 1.000% gestiegen. Das entspricht einem jährlichen Anstieg von über 16%. Der Investor Charlie Bilello hat hierzu festgestellt, bei diesem Anstieg könne man glauben, dass Investoren eine super Zeit gehabt haben. Wer allerdings die letzten 16 Jahre investiert hat, der wird die Zeit vielleicht nicht so großartig in Erinnerung haben. Seit März 2009 hatte der S&P 500 insgesamt 30 Korrekturen von mehr als 5%. Davon waren zehn größer als 10%, vier überstiegen 20% und eine lag bei über 30%.
Wenn wir über das Risiko an der Börse nachdenken, dann sind wir gedanklich schnell bei den großen Marktverwerfungen der Börsengeschichte. Die Große Depression Ende der 1920er Jahre, die Dot-Com-Blase zur Jahrtausendwende, die Finanzkrise von 2008 oder auch die Börseneinbrüche zur COVID-Pandemie. Diese von Angst und Panik geprägten Ereignisse sind für uns ziemlich präsent.
Doch Fakt ist, dass mehr oder weniger große Kursschwankungen normal sind. Es passiert sehr regelmäßig, dass die Kurse auch mal wieder runtergehen. Bilello sagt dazu:
“Das Risiko ist immer präsent, auch wenn wir es vielleicht nicht immer sehen.”
Dessen müssen wir uns bewusst sein. Die Entwicklung der Börsen ist historisch betrachtet über einen langen Zeitraum richtig gut. Also über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten haben die Börsen eine sehr gute Entwicklung genommen. Aber je mehr man reinzoomt, desto größer werden die Ausschläge. Da geht es richtig zur Sache.
Und wenn es im Moment des Geschehens mal um 5% oder um 10% nach unten geht, dann ist es einem unter Umständen herzlich egal, dass die Entwicklung über einen langen Zeitraum so toll sein soll. Im Moment des Geschehens fühlen Anlegerinnen und Anleger mitunter Unsicherheit, Ambiguität.
Über einen langen Zeitraum ist das Risiko eines breitgestreuten Aktienportfolios vergleichsweise gering. Aber über einen kürzeren Zeitraum ist die Unsicherheit hoch. Langfristig können wir mit Investitionen in Aktien eine sehr ordentliche Rendite einfahren. Das bekommen wir aber nur, wenn wir zwischendrin die Ambiguität aushalten.
Anders ausgedrückt: Die Fluktuation der Aktienkurse und die Ambiguität, der wir als Anlegerinnen und Anleger ausgesetzt sind, das ist der Beipackzettel des Investierens.
Kommen wir nochmal zurück zur Abgrenzung von Ambiguität und Risiko.
Risiko ist die Möglichkeit von Verlust – laut FeldmanHall mit dem Wissen über die Wahrscheinlichkeit, dass der Schadensfall eintritt. Bei Ambiguität fehlt uns das Wissen über die Wahrscheinlichkeit.
Wenn ich als Anlegerin bzw. Anleger nun zum Beispiel mit einem Sparplan in ein breit gestreutes Aktienportfolio investiere. Dann kann ich aus der Entwicklung der Vergangenheit das Risiko recht klar für mich erkennen. Ich kann die Wahrscheinlichkeit von Verlust einschätzen.
Stichwort Folge 2 Wenn die Börsen beben: Wenn ich mit einem breit gestreuten Aktienportfolio den Markt abdecke, zum Beispiel mit ETFs, dann reicht mir auch ein Blick in die Vergangenheit und die Entwicklung bei vergangenen Crashs. Da zeigt sich dann, dass sich der Markt insgesamt, trotz zwischenzeitlich gravierender Kursverluste, über einen langen Zeitraum sehr positiv entwickelt hat.
Wenn die Märkte kurzfristig um vielleicht 10% oder auch 20% einbrechen und ich halte an meinem Sparplan fest. Ich investiere weiter und ich bleibe langfristig dabei. Dann ist diese zwischenzeitliche Verwerfung mit Blick auf meinen langfristigen Zeitraum für mich kein Risiko. Die Frage ist aber, ob ich während eines Kurseinbruchs eine Ambiguitätstoleranz habe. Kann ich einen Rückgang von 20% verkraften, ihn tolerieren?
Vielleicht hat man das mit logischem Blick vorher mit einem lauten “Ja, natürlich kann ich das beantwortet”. Was ein Einbruch von 10 oder 20% aber tatsächlich mit Dir macht. Wie sich das anfühlt, wie Du mit diesem Gefühl umgehst, wie Du Dich tatsächlich verhalten wirst: Das weißt Du erst, wenn Du den Moment des Geschehens erlebst. Charlie Bilello meint: Dann beginnt der wahre Test.
Kursschwankungen können heftig sein – können wir das verkraften?
Ich persönlich investiere seit über 20 Jahren. Und ich würde von mir behaupten, dass ich einigermaßen abgeklärt bin, meine Emotionen im Griff habe. Aber ein Rückgang von 20% ist nicht schön. Es ist nicht leicht zu mit anzusehen, wenn das eigene Portfolio dahinschmilzt. Aber das gehört zum Investieren dazu. Das ist der Beipackzettel.
Wenn man in solchen Zeiten auch noch die Börsennachrichten verfolgt, dann kann sich der Eindruck verfestigen, dass uns ein finanzielles Armageddon ins Hause steht. Da können die Schlagzeilen echt unheimlich sein:
- “Das sind die gleichen Vorzeichen wie bei der Dot-Com-Blase als viele Aktien um 90% gefallen sind”
- “Das ist der heftigste Kurseinbruch an nur einem Tag seit 20 Jahren”
- “Die Panik der Investoren greift um sich”
Wenn man sich inmitten einer schon angespannten emotionalen Grundhaltung solchen Nachrichten aussitzt, dann wird es vermutlich nicht leichter, die Situation auszuhalten. Da denkt man sich womöglich: Vergangene Entwicklung hin oder her. Ich pfeife auf die blöde Ambiguitätstoleranz. Hier herrscht ein Ausverkauf und mein Vermögen wird gerade pulverisiert.
Und ich sage auch nicht, dass die Nachrichten immer falsch sind. Während der COVID-Pandemie sind die Aktienmärkte in etwas mehr als einem Monat um 35% gefallen. Das ist richtig krass. Das war der schnellste Markteinbruch der Börsengeschichte und wenn wir uns zurückerinnern, dann war das eine wirklich schwierige Zeit mit einer sehr großen Unsicherheit. Doch auch in dieser Situation würde ich hinterfragen, ob die Lektüre schnelllebiger und zuweilen etwas sensationslüsternder Finanznachrichten in Phasen der Marktverwerfungen wirklich hilfreich ist.
Rückblickend haben sich die Märkte vom Einbruch zur COVID-Pandemie wahnsinnig schnell wieder erholt. Doch nur kurze Zeit später stand uns mit der hohen Inflation das nächste Krisenthema ins Haus und der S&P 500 fiel 28% von seinem Höhepunkt. Auch der DAX fiel von knapp 16.000 Punkten im Januar 2022 in nur zehn Monaten um gut 25% auf unter 12.000 Punkte. Zeitgleich überschlugen sich wieder mal die negativen Aussichten für die Weltwirtschaft und die Märkte. Doch der Tiefpunkt war vorerst erreicht und die Entwicklung ging wieder nach oben.
Deswegen nochmal: Die Unsicherheit, die Ambiguität ist im Moment des Geschehens hoch. Sie ist der Beipackzettel des Investierens.
Nun mag mancher im Nachhinein Denken:
Die Talsohlen einfach durchstehen ist eine Möglichkeit. Viel lukrativer wäre es jedoch gewesen, wenn man rechtzeitig verkauft hätte, während der Schwächephasen ausgesetzt hätte und dann nach dem Ausverkauf zu einem deutlich niedrigeren Preis wieder eingestiegen wäre. Man hört es schon: Da ist eine Menge “hätte wäre könnte”. Dieses Market Timing mag eine nette Vorstellung sein. Vielleicht mag das auch einmal funktionieren. Doch in der Praxis funktioniert das nicht auf Dauer und man läuft eher Gefahr, eine unterdurchschnittliche Rendite oder gar einen Verlust einzufahren.
Wenn wir langfristig erfolgreich investieren möchten, also eine ordentliche Rendite erzielen wollen, dann kommen wir um den Beipackzettel der Ambiguität und der kurzfristigen Marktverwerfungen nicht herum.
Kommen wir nochmal zurück zum S&P 500: Der hat seit dem Jahr 1928, also in fast 100 Jahren, eine jährliche Rendite von ca. 10% erzielt bzw. Inflationsbereinigt knapp 7%. Damit stehen Aktien langfristig deutlich besser da als bspw. Anleihen mit inflationsbereinigt ca. 1,5% Rendite. Der Ertrag einer Anleihe ist grundsätzlich gut planbar. Wenn ich heute eine Anleihe kaufe und diese bis zum Ende der Laufzeit halte, dann weiß ich schon heute, welche Rendite ich erzielen werde. Also vorausgesetzt, der Schuldner, der Emittent der Anleihe, geht nicht pleite. Anders ausgedrückt: Bei einer Anleihe kaufe ich mir Sicherheit. Weitere Details dazu kannst Du auch nochmal in Folge 33 und Folge 34 über das Investieren in Anleihen nachhören bzw. nachlesen.
Bei Aktien gibt es diese Sicherheit nicht. Wir können heute nicht mit Sicherheit sagen, wie sich die Wirtschaft insgesamt oder auch das einzelne Unternehmen in den nächsten Jahren entwickelt. Und zumindest über einen relativ kurzen Zeitraum sind die Börsen anfällig für Emotionen und mehr oder weniger erratische Verwerfungen, wie in Folge 107 über die Irrationalität der Märkte beschrieben. Anders ausgedrückt: Die höhere Rendite bei Aktien im Vergleich zu Anleihen kaufe ich mir durch eine höhere Volatilität, durch größere zwischenzeitliche Schwankungen, die ich bei Aktien in Kauf nehmen muss.
Wichtig ist nur, dass diese höhere Rendite historisch betrachtet und über einen langen Zeitraum wie beschrieben ausgefallen ist. Kurzfristig kann die Rendite deutlich höher aber vor allem auch negativ sein und auch zukünftig ist nicht garantiert, dass sie langfristig inflationsbereinigt bei knapp 7% liegt und nicht auch bei bspw. 4% liegen könnte. Zumal 7% ein historischer Mittelwert ist und wir nicht wissen, wie sich die Zukunft entwickeln wird.
Das Titelbild ist in Bayern entstanden.